Mobilität: Projekte

Flexibler und bedarfsgerechter Nahverkehr: Reallabor Schorndorf gestartet

App zum Reallabor Schorndorf
App zum Reallabor Schorndorf. Bild: DLR

Busfahren nach Bedarf statt Fahrplan – das ist der Grundgedanke im Reallabor Schorndorf. Ziel dieses europaweit einmaligen Forschungsprojekts unter Leitung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) ist es, den öffentlichen Nahverkehr flexibler und nachhaltiger zu gestalten und gleichzeitig enger an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer auszurichten.

Nach rund zwei Jahren Entwicklungs- und Vorbereitungszeit startete am 10. März 2018 der Pilotbetrieb des neuartigen Buskonzepts in Schorndorf bei Stuttgart. Zu den Partnern der DLR-Verkehrswissenschaftler gehören die Stadt Schorndorf, der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS), Knauss Linienbusse, die Hochschule Esslingen sowie das Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart.

Schorndorfer Bürger als Teilhaber und Mitentwickler

„Im Reallabor Schorndorf haben wir ein zukunftsweisendes Mobilitätskonzept für den öffentlichen Nahverkehr entwickelt, das wir jetzt in der Praxis erproben. Unser flexibler Bedarfsbus ist von Beginn an fester Teil des öffentlichen Nahverkehrs – also auch in die Netz- und Preisstruktur des regionalen Verkehrsverbunds VVS integriert“, erläutert DLR-Forscher und Projektleiter Matthias Klötzke. „Die Schorndorfer Bürgerinnen und Bürger sind Teilhaber und Mitentwickler. Ihre Ideen, Erfahrungen und Anregungen sind elementarer Bestandteil des Forschungsprojekts und maßgeblich für dessen weiteren Verlauf.“

„Ich freue mich, dass in Schorndorf, der Geburtsstadt Gottlieb Daimlers, neue Formen der Mobilität erprobt werden“,  sagte der Schorndorfer Oberbürgermeister Matthias Klopfer. „Wenn wir die Zukunft, wie im Falle des Reallabor-Projekts mitgestalten können, dann sind wir als innovative Stadt natürlich gerne mit dabei – gerade auch im Bereich des ÖPNV. Denn der künftige Erfolg des öffentlichen Nahverkehrs wird davon abhängen, wie es gelingt, das Angebot noch mehr an die individuellen Ansprüche und Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer anzupassen. Mit dem Reallabor und unserem flexiblen Busbetrieb gehen wir genau diesen Schritt. Und wir sind sehr gespannt, wie die Bürgerinnen und Bürger das neue System annehmen.“

So funktioniert der Bedarfsbus

Zentrales Element des Buskonzepts ist das digitale Bestellsystem. Der Nutzer übermittelt per Smartphone-App, Heimcomputer, Telefon oder über insgesamt 13 teilnehmende Einrichtungen, Geschäfte, Restaurants und Cafés seinen Fahrtwunsch, also wann und wo er abgeholt werden will. Das Bestellsystem berechnet dann die reale Abholzeit und teilt dem Nutzer mit, wo er vom Bus abgeholt wird.

Neben den bisherigen Haltestellen gibt es mehr als 200 potenzielle Ein- und Ausstiegs-Orte, sogenannte virtuelle Haltepunkte. Bisher liegt der durchschnittliche Weg zum nächsten Busstopp bei rund 500 Metern. Mit dem neuen Konzept verkürzt sich die Wegstrecke auf 150 bis 200 Meter – ein Vorteil nicht nur für mobilitätseingeschränkte Personen. Gleichzeitig fährt der Bus nur, wenn er gebraucht wird. So lassen sich unnötige Leerfahrten vermeiden und Ressourcen gezielter einsetzen.

Nach dem Start des Pilotbetriebs am 10. März 2018 werden jeweils im Zeitraum von Freitagnachmittag bis Sonntagnacht ein bis zwei Kleinbusse – oder bei erhöhtem Fahrgastaufkommen auch ein regulärer Omnibus – flexibel und bedarfsgerecht eingesetzt. Diese Bedarfsbusse ersetzen zwei Linien im Süden Schorndorfs. Außerhalb dieses Zeitraums gilt der bisherige reguläre Fahrplan.

Forschungsschwerpunkte: Partizipation, Bedien- und Fahrzeugkonzept

Der Aspekt der Partizipation bildet einen wichtigen Forschungsschwerpunkt im Reallabor Schorndorf. Über die ganze Laufzeit des Projekts sind die Schorndorfer Bürger und kommunalen Gremien in die Arbeiten eingebunden, beispielsweise mittels öffentlichen Informationsveranstaltungen, Befragungen, Testnutzern und Mobilitätswerkstätten. Auf diese Weise nutzen die Projektpartner das vorhandene Wissen der Bürger, erfassen Wünsche und Anforderungen und fördern so die Akzeptanz und Transparenz des Projekts.

Reallabor Schorndorf

Bedienoberfläche für Busfahrer. Bild: DLR

„Da es keine festen Haltestellen, Routen und Fahrpläne gibt, mussten wir bei der Entwicklung unseres Bedienkonzepts viele neue Herausforderungen meistern – vor allem was die Kommunikation zwischen Nutzern, Busfahrern und der Disposition über das digital gestützte Bestellsystem betrifft“, erklärt DLR-Forscherin Laura Gebhardt. Fahrgäste sollen ihre Angaben schnell und einfach übermitteln können. Im Hintergrund wertet die rechnergestützte Disposition die Fahrtwünsche aus und erstellt mit Hilfe eines Algorithmus daraus Routen für die einzelnen Umläufe. Auf der Empfängerseite benötigen die Busfahrer entsprechende Nutzeroberflächen, um diese Routen umzusetzen. „Deshalb sind wir gespannt, wie sich die von uns entwickelten Systeme im Praxistest bewähren, was gut funktioniert und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt“, so Projektleiter Matthias Klötzke.

Zusätzlich zur Entwicklung des Bestellsystems machen sich die Wissenschaftler im Reallabor Schorndorf auch über innovative Fahrzeugkonzepte Gedanken, die den Anforderungen eines bedarfsorientierten Buskonzepts am besten gerecht werden: Größe, Zahl der Sitzplätze und Innenraumgestaltung fließen dabei genauso ein wie Fragen nach der geeigneten Antriebstechnologie, dem Energieverbrauch und Emissionen. Erste Konzeptstudien und Modelle werden im Herbst präsentiert.

Hintergrund: Reallabor Schorndorf

Das „Reallabor Schorndorf: Zukunftsweisender Öffentlicher Verkehr – Bürgerorientierte Optimierung der Leistungsfähigkeit, Effizienz und Attraktivität im Nahverkehr (BOOLEAN)“ ist eines von sieben Forschungsprojekten, die vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert werden und zukunftsfähige Lösungen für Herausforderungen in Ballungsräume erproben. In den Reallaboren stoßen Wissenschaftler zusammen mit Kommunen, Unternehmen und Bürgern Veränderungen in der Stadt an und begleiten, beobachten und analysieren diesen Innovationsprozess. Das „Reallabor Schorndorf“ erhält eine Förderung von rund 1,2 Millionen Euro über eine Projektlaufzeit von drei Jahren.