Mobilität

Barrierefreiheit in Echtzeit: Wie die Digitalisierung selbstbestimmte Teilhabe im ÖPV vorantreibt

Barrierefreiheit neu gedacht: Die Saarbahn implementiert das System in ihrer gesamten Busflotte (Credit: Saarbahn)

IT-TRANS: App erleichtert Busnutzung für Menschen mit Sehbehinderung – enger Erfahrungsaustausch mit Nutzenden bei der Entwicklung

In der Schweiz verlangt das Behindertengleichstellungsgesetz einen barrierefreien Umbau von Bahnhöfen. In Deutschland hatte das Personenförderungsgesetz Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr bis 2022 vorgesehen. In Österreich regelt das Gesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen Barrierefreiheit bis 2015. Übergangfristen von rund zehn Jahren sind jedoch eine kurze Zeitspanne, wenn es darum geht, Haltestellen umzubauen, Busse auszutauschen oder U-Bahn-Stationen barrierefrei zu gestalten. Was dabei immer wieder außer Acht gerät: Barrierefreiheit hört nicht bei erhöhten Bordsteinen an Haltestellen, Fahrstühlen in Bahnhöfen und Orientierungsstreifen auf, sondern schließt das gesamte Beförderungserlebnis mit ein – von der Routenplanung bis zur Orientierung an Großhaltestellen und Echtzeitinformation im Fahrzeug. Trapeze hat in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) das System INTROS entwickelt, das Fahrgäste mit Seheinschränkung sprichwörtlich von A nach B begleitet. Auf der IT-TRANS vom 14. bis 16. Mai in Karlsruhe wird es näher vorgestellt.

Per Definition ist der öffentliche Personenverkehr eine grundlegende staatliche Aufgabe zur Daseinsversorgung und gehört damit wie Bildung, Energieversorgung oder das Gesundheitswesen zur Grundversorgung von Bürgerinnen und Bürgern. Für Fahrgäste mit Einschränkungen ist vor allem die Möglichkeit, Verkehrsmittel sicher, stressfrei und vor allen Dingen eigenständig zu nutzen, ein entscheidendes Kriterium für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Während in den vergangenen Jahren gerade der Zugang für Menschen mit Gehbehinderung verbessert wurde, stehen blinde und seheingeschränkte Fahrgäste vor besonderen Herausforderungen.

Von Nutzenden lernen

Welche Herausforderungen begegnen also einem Menschen mit Sehbehinderung, der mit dem Bus von A nach B fahren möchte? Da wäre zum einen die Vielfalt an Haltepunkten, Linien und Destinationen, die insbesondere an Verkehrsknotenpunkten die Regel ist und die auch für sehende Fahrgäste eine Herausforderung sein kann. Welche Linie fährt gerade in die Haltestelle ein? Wo befinden sich die Eingänge am Fahrzeug? Wann muss ich aussteigen und wo ist der Halteknopf? An Bord wird die kommende Haltestelle im besten Fall akustisch, im schlechtesten Falle nur optisch angezeigt – und kann durch kurzfristige Umleitungen und Fahrplanänderungen von der Realität abweichen. All das, was für viele Fahrgäste selbstverständlich ist, wenn sie mit dem Bus unterwegs sind, kann für blinde und sehbehinderte Menschen eine Hürde sein.

Um zu erfassen, welche Bedürfnisse blinde Menschen im ÖPNV haben und was die dringlichsten Problemstellungen sind, hat das INTROS-Entwicklerteam eng mit dem SBV zusammengearbeitet. Michael Lingk, Produktmanager bei Trapeze, sagt: „Als Interessenvertreter der sehbehinderten und blinden Fahrgäste kam der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV im Jahr 2018 auf Trapeze Switzerland zu – mit der Anforderung, eine regional skalierbare Lösung zu entwickeln. Bereits im ersten Pilotprojekt wurden Schüler der Blindenschule Zugerland in die Tests involviert, um die Akzeptanz der Lösung sicherzustellen. Außerdem arbeiten die Betroffenen explizit selbst an der Lösung mit, beispielsweise Informatiker der Abteilung Technologie und Innovation des SBV. So wurde die App von Betroffenen für Betroffene entwickelt. Und damit ließen sich Überraschungen bei der Entwicklung vermeiden.“

Echtzeitkommunikation und vernetzte Systeme

Grundlage des Systems ist ein Bordmodul, das über eine Schnittstelle mit dem Bordcomputer des Fahrzeugs in Verbindung steht, sowie eine App, die Nutzende auf ihrem Smartphone installieren und die via Bluetooth Low Energy mit dem Bordmodul kommunizieren kann. Immer im Fokus dabei ist, dass Fahrgäste ihre Reise weitestmöglich selbstbestimmt und unabhängig von der Hilfe Dritter planen und antreten können.

Bereits vor Reiseantritt kann der Fahrgast mithilfe der App auf die Fahrpläne zugreifen und seine Route planen – dabei erkennt das System automatisch, welche Haltestelle die nächste zum aktuellen Aufenthaltsort ist. Ist der Fahrgast bereits an der Haltstelle, erkennt das System dies und zeigt den lokalen Fahrplan an. Fährt das gewünschte Fahrzeug ein, informiert die App den Nutzenden und leitet ihn zum richtigen Einstiegspunkt.

Eine wichtige Komponente von INTROS ist dabei die Echtzeitkommunikation mit dem Bordcomputer des Fahrzeugs sowie die direkte Interaktion mit dem Fahrzeug. Via App können Nutzende beispielsweise an den Fahrerplatz übermitteln, dass sie beim Ein- und Ausstieg aus dem Fahrzeug mehr Zeit benötigen oder an welcher Haltestelle sie den Bus verlassen möchten. Akustische Signale an Bord sowie ein Freisprechsystem, bei dem das Handy in der Tasche bleiben kann, erleichtern die Bedienung.

Komplexe Technik – komplexe Implementierung?

Die Möglichkeiten, die sich Fahrgästen mit Seheinschränkung dank des INTROS-Systems eröffnen, sind umfassend. Doch wer deshalb von einer hochkomplexen Einrichtung ausgeht, liegt falsch. Denn die Hauptarbeit leistet die Software-Anwendung. „Zusätzlich ist lediglich die INTROS-Hardware erforderlich, die in die Fahrzeuge der Verkehrsbetriebe integriert wird,“ so Michael Lingk.

Nach erfolgreichem Pilotbetrieb mit Testnutzern: Saarbahn stattet gesamte Busflotte aus

Die Saarbahn stattet derzeit ihre gesamte Busflotte mit dem barrierefreien Informations- und Orientierungssystem INTROS aus. Mit dem System möchte das Saarbrücker Verkehrsunternehmen insbesondere seinen blinden und seheingeschränkten Fahrgästen die Nutzung des ÖPNV erleichtern und ihre selbstbestimmte Mobilität unterstützen. Das Leuchtturmprojekt wird vom Saarland gefördert.

Vorangegangen war in den Jahren 2020 und 2021 ein Pilotprojekt der Saarbahn, unterstützt vom Blinden- und Sehbehindertenverein für das Saarland e. V., der hauptamtlichen Behindertenbeauftragten und dem Behindertenbeirat der Landeshauptstadt Saarbrücken.

Hierbei wurde der Einsatz des „Barrierefreien Informations- und Orientierungssystems“ mit blinden- und seheingeschränkten Testnutzern zunächst auf einer Linie erprobt. „Im Mittelpunkt standen dabei die besonderen Anforderungen der Zielgruppen und die Nutzerfreundlichkeit des Systems“, erklärt Katharina Meßner-Schalk, Leiterin Stabsstelle Strategische Projekte bei der Saarbahn. Nach mehrmonatiger Erprobung wurde die Technik testnutzerseitig als geeignet beschrieben, blinden und seheingeschränkten Menschen echte Alltagshilfe zu bieten. Von dem Angebot könnten weitere Nutzergruppen profitieren, beispielsweise Senioren, aber auch Analphabeten oder Personen, die aufgrund geistiger Behinderung die herkömmliche Fahrgastinformation nicht nutzen können.

Die Saarbahn setzt das Projekt, das auf einer gelungenen Zusammenarbeit aller Beteiligten fußt, flächendeckend in ihrer Busflotte um. Mit 28 Bahnen und 138 eigenen Bussen befördert das Verkehrsunternehmen jährlich rund 40 Millionen Menschen in der Landeshauptstadt Saarbrücken und der umliegenden Region.

IT-TRANS Senior Project Manager Markus Kocea: „Bei der Messe Karlsruhe tauschen wir uns intensiv zum Thema Barrierefreiheit aus, gerade auch durch unsere hauseigene Fachmesse REHAB. Learning dabei ist immer wieder, dass entsprechende Angebote dann gut angenommen werden, wenn sie ein weitgehend selbstständiges Bewältigen des Alltags ermöglichen. Dazu gehört eben auch eine sichere Reise von A nach B – ohne auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, sondern allein durch eine verlässliche und durchdachte Technik. Wir freuen uns, dass Trapeze das innovative System INTROS auf der kommenden IT-TRANS vom 14. bis zum 16. Mai 2024 auf ihrem Stand präsentieren wird.“