In Deutschland wird erfolgreich an verschiedensten Zukunftstechnologien im Mobilitätsbereich geforscht. Doch der zügige Erkenntnis- und Technologietransfer in die Praxis funktioniert bisher nur begrenzt oder dauert sehr lange, so dass Bürgerinnen und Bürger nur unzureichend von neuen wissenschaftlichen Errungenschaften profitieren. Großangelegte Experimentierräume in Stadt und Land sollen neue Mobilitätskonzepte und -technologien schneller als bisher aus dem Labor auf Straße, Schiene und Radweg bringen.
Anna Christmann, Stefan Gelbhaar
Die verkehrspolitischen Schlagzeilen des zurückliegenden Jahres zeigen eindrücklich, dass es in Deutschland dringender und umfangreicher verkehrspolitischer Veränderungen bedarf: „Dieselskandal: Audi zahlt 800 Millionen Euro Bußgeld“[1], Fahrverbote in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt am Main und bald auch Berlin, Bonn, Köln und Aachen, 40 % des innerstädtischen Verkehrs ist Parksuchverkehr[2], „2018 kam jeder vierte Fernzug zu spät“[3], „Deutsche Großstädte investieren zu wenig in sicheren Radverkehr“[4].
Trotz der Vielzahl an Negativmeldungen sieht die Bundesregierung seit Jahren keinen Anlass, durch deutliche Innovationsanreize ökologische, nachhaltige und soziale Mobilitätsformen für unsere Städte und ländlichen Regionen voranzutreiben. Dabei wollen viele Kommunen die Mobilität der Zukunft zügig auf die Straße bringen und sind bereit, voranzugehen. Die nötigen finanziellen Ressourcen können Städte und Landkreise vielfach nicht allein aufbringen. Um Projekte vernetzter Mobilität, neue Sharing-Dienste oder innovative Wirtschaftsverkehre für die letzte Meile endlich zu ermöglichen und in Pilotregionen unter Realbedingungen zu erproben, braucht es eine gezielte und substantielle finanzielle Unterstützung des Bundes.
Wir könnten in Deutschland schon viel weiter sein, wenn wir es schaffen würden, neue Ideen aus der Mobilitätsforschung zügig umzusetzen. Doch die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand und dessen Umsetzung in die Praxis ist enorm. So schafft die Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten, Verkehrsträger miteinander zu vernetzen, um Menschen und auch Waren flexibel von A nach B zu bringen – zum Beispiel durch den Einsatz von Bikesharing und E-Tretrollern in Verbindung mit dem ÖPNV und On-demand-Diensten. Auch eine intelligente Verkehrssteuerung und Parkraumbewirtschaftung würden helfen, den städtischen PKW-Verkehr einerseits zu verringern und andererseits, wo notwendig, effizienter zu gestalten. Alle diese Technologien gibt es bereits. Doch der Praxistest und die Implementierung dieser und weiterer innovativer Mobilitätslösungen lassen weiter auf sich warten (Translationsproblem).
Breit angelegte Experimentierräume könnten einen substantiellen Beitrag für nachhaltige Mobilität in Stadt und Land leisten und dabei sowohl dem dringlichen verkehrspolitischen Veränderungsbedarf als auch dem eklatanten Translationsproblem der Mobilitätsforschung Rechnung tragen. Sie können einen realen Laborraum schaffen, in dem visionäre Ideen mit neuesten Technologien kombiniert werden, um den Menschen komfortable und effiziente Mobilität in einer intakten Umwelt zu ermöglichen. Sie können Leuchttürme mit hoher Strahlkraft sein und gelebte Utopien für die Mobilität der Zukunft darstellen. Konkret sollen Experimentierräume wie folgt ausgestaltet werden:
- Ganze Städte und ländliche Regionen sollen gefördert werden, um dort ganzheitliche und substantielle Veränderungen im Sinne einer umwelt- und klimagerechten Verkehrswende zu ermöglichen.
- In einem ersten Schritt sollen durch den Bund fünf Städte und ländliche Regionen mit jeweils bis zu 75 Millionen Euro unterstützt werden, damit diese weithin sichtbare innovative Mobilitätslösungen entwickeln können.
- Die Finanzmittel sollen sowohl für konkrete Umsetzungsmaßnahmen (z. B. Mobilitätstechnologien, Infrastrukturmaß-nahmen, städtebauliche Maßnahmen) als auch für inter- und transdisziplinäre (Begleit-)Forschung genutzt werden können.
- Innerhalb der Experimentierräume sollen notwendige regulatorische Maßnahmen getroffen werden können, um zukunftsweisende Mobilitätstechnologien zeitlich und räumlich begrenzt austesten zu können.
- Die auszuwählenden Städte und ländlichen Regionen sollen in einem offenen Wettbewerbsverfahren ausgewählt werden und die Beantragung der Mittel durch die Kommunen zusammen mit Wissenschaftseinrichtungen sowie Partnern aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft erfolgen.
- Eine starke Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern durch bewährte Beteiligungsformate soll sowohl eine optimale Planung und Umsetzung der verkehrlichen Maßnahmen gewährleisten und gleichzeitig möglichen Akzeptanzproblemen von Beginn an aktiv begegnen.
- Um im Projektverlauf die nötigen Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen zu gewährleisten, bedarf es einer unbürokratischen und flexiblen Finanzierung.
Viele spannende Ansätze für Experimentierräume im Mobilitätsbereich sind bereits vorhanden. Genannt werden kann hier das städtische „Testfeld Autonomes Fahren“, welches Anfang Mai 2018 im Raum Karlsruhe an den Start ging.[5] Doch gerade dieses Beispiel offenbart die häufige Engführung auf einen bestimmten Aspekt (in diesem Fall das autonome Fahren). Stärker anknüpfen sollte das Format der Experimentierräume an die Reallaborforschung.[6] Denn aktuelle Projekte und Konzepte erfüllen oft nur teilweise die bisher definierten Kriterien. So konnten mit der Förderung von Reallaboren in Baden-Württemberg sehr gute Erfahrungen gemacht werden und dabei Veränderungsprozesse vor Ort weiter verstärkt und transdisziplinär erforscht werden.
Positiv zu erwähnen ist auch der durch das BMBF geförderte Wettbewerb „Zukunftsstadt“, welcher Städte und Kommunen unterschiedlichster Größe dabei unterstützt, Zukunftskonzepte für ihre jeweilige Kommune mit einer Vielzahl an Akteuren partizipativ zu entwickeln. Doch bleibt oft unklar, nach welchen Kriterien Städte ausgewählt und gefördert werden. Wir fordern daher, dass es einen Wettbewerb um die besten Ideen und einen transparenten Auswahlprozesses geben muss. Auch bezüglich ihres konzeptionellen und finanziellen Umfangs sind hier die Experimentierräume für innovative und nachhaltige Mobilität deutlich größer gedacht als bisherige Ansätze. Denn nur mit ausreichend finanziellen Mitteln können ganze Städte oder Landkreise auch innerhalb kurzer Zeit neue Verkehrsinfrastruktur aufbauen, die ein Ausprobieren neuer Mobilitätskonzepte unter Realbedingungen ermöglicht.
Die Schaffung solcher Erprobungsräume substantieller Größe kann einen entscheidenden Beitrag leisten, um unsere Städte und ländlichen Räume zukunftsfähig zu machen. Darüber hinaus führt die Förderung solcher Experimentierräume dazu, dass das Leben und Wirtschaften in Stadt und Land dauerhaft ökologisch verträglicher, sozial gerechter und ökonomisch tragfähiger als heute sein wird. Auch lässt sich durch solche Räume ein vertieftes Verständnis darüber entwickeln, wo weitere politische, rechtliche, technologische und kulturelle Handlungsbedarfe für innovative, zukunftsfähige Mobilität bestehen. ■
[1] Vgl. https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-10/dieselskandal-audi-zahlt-800-millionen-euro-bussgeld
[2] Vgl. https://www.mobility.siemens.com/mobility/global/SiteCollectionDocuments/de/road-solutions/urban/solutions-around-parking/Sitraffic_Guide-de.pdf
[3] Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/article186845224/Deutsche-Bahn-2018-kam-jeder-vierte-Fernzug-zuspaet.html
[4] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/deutsche-grossstaedte-tun-zu-wenig-fuer-sicheren-radverkehr-15759396.html
[5] Vgl. https://taf-bw.de/
[6] Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Förderung von Reallaboren in Baden-Württemberg verwiesen. In den dortigen Forschungsprojekten trifft Wissenschaft auf Praxis mit dem Ziel, vor Ort reale Veränderungsprozesse anzustoßen. Vgl. https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/forschung/forschungspolitik/wissenschaft-fuer-nachhaltigkeit/reallabore
Dr. Anna Christmann
MdB, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Berlin
anna.christmann@bundestag.de
Stefan Gelbhaar
MdB, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Berlin
stefan.gelbhaar@bundestag.de
Der Originalbeitrag ist erschienen in:
Internationales Verkehrswesen (71), Heft 1/2019, S. 16 f.