Standpunkt

Covid-19 und das Dilemma der Verkehrsplanung

Covid-19 und das Dilemma der Verkehrsplanung
K.W.Axhausen | privat

Ein Statement von Prof. Dr.-Ing. Kay W. Axhausen, Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, Eidgenössische Technische Hochschule ETH Zürich

Die Pandemie beschäftigt Europa seit einem Jahr. Nachdem China nicht mehr weit weg war und die Sorge um die Funktionsfähigkeit der Krankenhäuser und der Gesundheit der Bevölkerung die Politik dominierte, wurde der Alltag umorganisiert: Ausgangssperren, Firmenschließungen, Besuchsverbote, Beschränkung von Gruppengrößen usw. dominieren bis heute den europäischen Alltag. Die Wirkungen sind durchschlagend und beschleunigen Trends, die vorher noch durch Tradition und Gewohnheit gebremst wurden: Homeoffice und E-Commerce sind aus verkehrlicher Sicht die unmittelbaren Gewinner. Man muss sich fragen, wie und ob diese Beschleunigung das grundsätzliche Dilemma der Verkehrsplanung weiter verschärft.

Das Dilemma entsteht, da wir gesellschaftlich „den Fünfer und das Weggli“ haben wollen, also den Nutzen ohne die Einschränkung. Unsere Verkehrsnetze produzieren Erreichbarkeit, und wir wissen, dass Erreichbarkeit unsere Gesellschaft produktiver macht. Für die Wirtschaft ist das inzwischen Dutzende Male empirisch belegt worden. Für das soziale Zusammenleben noch nicht, aber die ermöglichte und realisierte wachsende Nachfrage im Freizeitverkehr, der ja im wesentlichen dazu dient, mit Anderen zusammen zu sein, legt dieselbe Schlussfolgerung nahe.

Diese Erreichbarkeit, vor allem in der Form der PKW-Erreichbarkeit, hat Folgen, die wir in Teilen nicht mehr wünschen. Es ist gezeigt worden, dass sie den PKW-Besitz fördert, der dann die Bereitschaft senkt, den ÖV zu nutzen, respektive sich an ihn – durch Jahreskarten – zu binden. Die erhöhte PKW-Erreichbarkeit geht mit wachsender PKW-Nutzung einher, und solange wir Verbrenner zulassen, auch mit wachsenden CO2-Emissionen. Die erhöhte PKW-Erreichbarkeit ermöglicht die Suburbanisierung der Bevölkerung und steigert auch damit die PKW-Nutzung . Vor 70 Jahren war diese Kombination gewünscht, aber unter den heutigen Bedingungen des Klimawandels ist sie ein Dilemma.

Das Arbeiten von zu Hause aus unterminiert in Kombination mit der momentanen gesellschaftlichen Verweigerung der ÖV-Nutzung die eine Politik, für die es Mehrheiten gibt, das Dilemma anzugehen: die Verdichtung der Siedlungen rund um den ÖV. Die entsprechenden Schweizer Referenden sind noch nicht lange her. Homeoffice reduziert in unseren Daten den Außer-Haus-Anteil um etwa 10%. Es reduziert die gefahrenen Kilometer für alle Verkehrsmittel, aber insbesondere für den ÖV. Es dürfte die Bereitschaft, sich an den ÖV zu binden, weiter reduzieren, da die jährlichen Fahrten an den Arbeitsplatz von durchschnittlich 5 Arbeitstagen × 45 Wochen auf vielleicht 3 × 45 Arbeitstage zurückgehen. Neue Tarifmodelle fehlen noch, um die Kunden dann weiter an den ÖV zu binden.

Das Homeoffice reduziert die Besucherzahlen der Städte und damit aller Dienstleister, die von ihnen leben. E-Commerce schwächt den stationären Einzelhandel weiter, insbesondere da ihn endgültig praktisch jeder in der Krise kennengelernt hat. So muss man sich fragen, welche Chance Kernstädte und „Business-Parks“ künftig haben. Überzeugende Ansätze für eine wirtschaftliche Umnutzung der Kerne sind noch nicht erkennbar. Ebenso fehlen aber auch Ansätze für die Umnutzung der Vorstädte und ländlichen Gebiete, die von der größeren Präsenz ihrer Bewohner profitieren sollten. Wir sahen aber in unseren Daten im Sommer keine große Reduktion der gefahrenen Kilometer durch volle oder teilweise Homeoffice-Arbeit: Der zeitliche Freiraum wurde für zusätzliche Fahrten genutzt, das Dilemma verschärft.

Die kommende Umstellung auf E-Fahrzeuge erzwingt praktisch Straßengebühren, um den Unterhalt der Straßen zu sichern. Mehr Verkehr in den Vororten wird auch dort Parkraumprobleme schaffen. Es wird weiter Dichte und Stau geben, allerdings in weniger Stadtkernen. Das mögliche Verkehrswachstum auf den dünnen Netzen der „Zersiedelung“ muss gemanagt werden.

In dieser Umbruchsituation wäre es sinnvoll, sich über die politischen Ziele zu verständigen – Erreichbarkeitsniveaus, mittlere Tagesgeschwindigkeiten, Menge an Parksuchverkehr, ÖV-Anteile usw. –, aber gleichzeitig sich darauf zu einigen, dass Mobility Pricing und dynamische Parkgebühren notwendig sind, um diese Ziele zu erreichen. Die Preise werden oft Null sein, da sie lokal und zeitlich nicht höher sein müssen. Die Einnahmen aus dem System müssten entsprechend direkt verteilt werden, um a) andere Verkehrssteuern zu senken und b) den Gemeinden, Gebietskörperschaften zu ermöglichen, die Systeme zu pflegen und zu betreiben.

Kay W. Axhausen


Erschienen in Internationales Verkehrswesen (73), Heft 1 | 2021