Standpunkt

Die Chancen sind da – jetzt

Ein Statement von Prof. Dr.-Ing. habil. Hartmut Fricke, Leiter der Professur Technologie und Logistik des Luftverkehrs an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ der TU Dresden

Im April 2017 war mein Vorwort für dieses Journal geprägt von Wachstum und Opti­mie­rungs­bedarf, um mit knappen Ressourcen kosteneffizient zu wirtschaften: Planung, Bau und Wartung der Fernstraßen wurden der neu gegründeten Autobahn­gesellschaft mit dem Ziel einer verbesserten, weil bundesweit zentralen Steuerung übertragen. Der Schienen­güter­verkehr wurde mit Sorge in Bezug auf veraltete Technik und zu knappe Kapazität des Schienennetzes betrachtet, die Binnenschifffahrt zeigte ihre Vulnerabilität in Bezug auf Niedrigwasserstände, und im Luftverkehr wurde das kleine unbemannte Flugzeug, die Drohne, als neuer Verkehrsträger für Expressfracht gefeiert.

Seitdem haben wir eine Pandemie überstehen müssen, verbunden mit deutlicher Veränderung des Mobilitätsverhaltens der Bürger und speziell der Arbeitnehmer: Home-Office und digitale Meetings wurden „hoffähig“. Zudem erkennt mittlerweile eine jede und ein jeder die hohe Dringlichkeit, nachhaltige Mobilität zu leben sowie Klimagase und klimarelevante Nicht-CO2-Emissionen wie Kondensstreifen unbedingt zu minimieren; das Mega-Projekt „Green Deal“ der EU findet nun Befürwortung in der Gesellschaft. Dies ist gut und wichtig, denn – wie schon so oft – muss die Krise als Chance gesehen werden, Innovation zu beflügeln.

Im gefühlten Zeitraffertempo steigert sich in diesem Licht nun die Leistungsfähigkeit der Elektromobilität auf der Straße, die Ladeinfrastruktur entwickelt sich endlich zügig – Ladeleistungen von bis zu 300 kW für PKW waren im Jahr 2017 noch undenkbar – und die Angebotspalette nimmt stetig zu. Dennoch wird schon jetzt erkennbar: Es wird wohl eine Zeit nach dem jetzigen Batterieauto-Konzept geben, da die Gesamtkosten einschließlich der Erzeugung von grünem Strom über PV auf dem Dach des Eigenheims oder Unter­neh­mens derzeit noch weit entfernt sind von einem konkurrenzfähigen Marktpreis, ebenso wie die Produktion eines E-Autos von einer neutralen Umweltbilanz über seinen Lebens­zyklus. Viele weitere Power-to-X-Konzepte stehen in den Startlöchern und ich hoffe, dass diese aktuelle Chance weiterhin gewahrt wird, gestützt von technologieoffener Förderung durch Staat und Gesellschaft.

Auch die Luftfahrtindustrie setzt massiv auf grüne Antriebe. Urban Air Mobility-Fluggeräte, Senkrechtstarter mit elektrischem oder hybridem Antrieb nahmen auf der wichtigsten Luftfahrtmesse „Le Bourget“ in diesem Jahr eine zentrale Rolle ein: Advanced Air Mobility (AAM) kann die bislang als Science-Fiction gehandelte Vision „fliegender Autos“ mit der nahenden Marktreife von Lufttaxis in den nächsten Jahren nun tatsächlich verwirklichen, wohl wissend um den nochmals deutlich höheren Energiebedarf gegenüber dem boden­gebun­denen Verkehr. AAM gilt als Technologiedemonstrator für lokal emissionsfreie Mobilität in der dritten Dimension, verbunden mit Vorteilen bei der Erreichbarkeit von Orten mit dichter Bebauung, hoher Verkehrslast oder komplexer Topologie. Damit tangiert sie auch die Stadtplanung sowie mittelfristig die Attraktivität ländlicher Regionen und die Frage, wie wichtig die Teilhabe an Mobilität in der Gesellschaft zukünftig eingestuft wird.

Motiviert durch neuartige, vorrangig elektrische Antriebe und beachtliche Fortschritte in der Energiespeicherung (Elektrizität, Wasserstoff), sind die Bedingungen für eine effiziente AAM-Operationalisierung nun greifbar. Allerdings sind die vielschichtigen Rahmen­bedin­gun­gen und Anforderungen an eine gesellschaftlich akzeptable Implemen­tierung dieser vielfältigen innovativen Mobilitätssysteme komplex und bedürfen noch umfänglicher transversaler Forschung im Spannungsfeld von Ökologie, Ökonomie, Technologie und soziologischem Sicherheitsbedürfnis.

Liebe Leserinnen und Leser, lassen Sie es uns anpacken! Die Chancen für das Land und die Menschen, Wohlstand durch Innovation mit einer Umwelt im Gleichgewicht zu vereinen, sind jetzt im Besonderen da. Grund auch für die Wahl der Beiträge der September-Ausgabe von Internationales Verkehrswesen – ich wünsche Ihnen wie immer eine spannende Lektüre.


Erschienen in Internationales Verkehrswesen (75), Heft 3 | 2023