Internationales Verkehrswesen: Sie haben sich in einem Beitrag, der in der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen in Kürze erscheint, mit der Frage beschäftigt, ob es eine Pflicht auf Automobilverzicht gibt, und haben diese Frage aus Anlass des 300. Geburtstages von Immanuel Kant auch im Hinblick auf dessen Ethik diskutiert. Was hat Kant den Autofahrern heute zu sagen?
Henning Tegner: Die Frage ist ein wenig tückisch, weil Kant gerade in seinem Jubiläumsjahr zu allen möglichen Alltagsfragen befragt wird, die seinerzeit vollkommen außerhalb seines Interesses standen. Allerdings hat er uns eine Reihe von Grundsätzen an die Hand gegeben, mit denen wir eine Ethik gestalten und nach deren Prinzipien wir sie formulieren können. Im Zentrum steht bei ihm die Maximenethik. Das heißt, wir stellen selbst die Grundsätze auf, nach denen wir entscheiden und handeln sollen. Kant hat uns auch vermittelt, warum wir nach diesen Grundsätzen handeln sollen: Wie kann ich Regeln für mein Handeln vernunftgemäß verallgemeinern, wie kann ich sie allgemeinverbindlich darstellen? Und so kann man sich heute mit ihm durchaus die Frage stellen: Ist eine schrankenlose, ungezügelte Automobilität mit fossilem Energieverbrauch und unbegrenztem Ressourcenverzehr ein Gesetz, das ich mir als allgemeines Naturgesetz überhaupt vorstellen kann? Ich denke, Kant hätte dafür kein moralisches Recht erkannt.
Internationales Verkehrswesen: Welche Bedeutung hatte Kants Position im Hinblick auf die Ethik bei späteren Philosophen – und insbesondere dieser Umweltaspekt beim Autofahren? Gibt es dazu eine aktuelle Diskussion?
Henning Tegner: Es gibt eine neuere Diskussion, diese beschäftigt sich sehr stark mit den Konsequenzen einer einzelnen Autofahrt. Eine solche freiwillige Fahrt zu Freizeitzwecken hat demnach allenfalls minimale Auswirkungen auf das Weltklima und unterliegt somit aus rein konsequentialistischer Sicht keinem moralischen Gebot, diese zu unterlassen. Was aber sagt die Pflichtenethik? Mit ihr weitet sich das Spektrum und man kann feststellen, dass Pflicht in Verbindung mit einer persönlichen Neigung, die ich zum Beispiel aufgrund getroffener Wertentscheidungen entwickelt habe, den Konsequentialismus überwinden kann. Es stellt sich die Frage: Kann ich einzelne Aktivitäten nicht einfach unterlassen? Bin ich nicht sogar verpflichtet, eine gewisse Neigung zu entwickeln, Handlungen zu unterlassen, die auch nur ansatzweise die Welt schädigen können? Diese Neigung – nennen wir sie Mobilitätstugend – kann ich für mich entwickeln, allerdings kann ich niemanden darauf verpflichten. Ein anderer Zweig der Pflichtenethik wiederum argumentiert, dass sich in einer Entscheidung unterschiedliche Pflichten verdichten können. Bin ich beispielsweise meinem Freund verpflichtet oder auch meiner Gesundheit, diesen Trip zur Erholung zu unternehmen? Oder bin ich nachfolgenden Generationen verpflichtet, diesen Trip zu unterlassen? Und dazu meinen einige neuere Philosophen, es sei tatsächlich die Pflicht des Einzelnen, zwischen solchen Pflichten sorgsam abzuwägen.
Internationales Verkehrswesen: Was denken Sie – werden die Autofahrer Kants Forderungen nachkommen? Beziehungsweise, wenn sie das nicht von alleine tun: Was kann man tun, um sie möglichst dazu zu bewegen, diesen moralischen Pflichten nachzukommen?
Henning Tegner: Ich bin kein Verkehrspsychologe, aber mein Eindruck ist, die meisten Autofahrer beziehen ihre Identität nicht ausschließlich aus dem Autofahren und wägen – zumindest außerhalb der täglichen Routinen – ihre Verkehrsmittelwahl ab. Es ist auch ein moralisch werthaltiges Gut, wenn man in der Lage ist, einzelne Mobilitätsentscheidungen zu hinterfragen im Sinne von: Wie gestalte ich meinen Weg nicht nur optimal, sondern auch verträglich? Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Menschen über unterschiedliche Mittel und Möglichkeiten verfügen und dass dies moralische Relevanz haben kann. Beispielsweise wenn Städter sich ganz toll fühlen, wenn sie U-Bahn fahren, sie die U-Bahn-Station aber eben auch vor der Haustür vorfinden – U-Bahn-Fahren könnte unter dieser Voraussetzung schlicht ihre moralische Pflicht sein. Gleiches kann im ländlichen Raum auf einen finanziell Begüterten zutreffen, der über die Anschaffung eines Elektroautos nachdenkt.
Im Übrigen unterliegen die CO2-Emissionen aus dem Verkehr dem deutschen Treibhausgashandel und werden demnächst in den europäischen Handel überführt, was weitere Preissteigerungen für eine Tonne CO2-Emission erwarten lässt. Das heißt, am Markt ist bereits ein Mechanismus installiert, der zur Begrenzung von Emissionen führt. Das taugt gewiss zum sozialpolitischen Aufreger, und dies nicht nur unter weniger begüterten Autofahrern, sondern gerade auch unter denen, die nicht jeden Euro umdrehen müssen. Aber – einen Weg muss ich gehen: Entweder akzeptiere ich diesen verknappenden wirtschafts- und verkehrspolitischen Rahmen oder ich schaffe es, mich selbst zu begrenzen. Beides gleichermaßen abzulehnen ist moralisch nicht gerechtfertigt. Und das ist für eine Ethik schon eine recht eindeutige Aussage, da ethische Untersuchungen nach meinem Eindruck nicht selten auf ein Sowohl-als-auch hinauslaufen. Hier weitere klare Anhaltspunkte zu entwickeln, das wäre eine schöne Herausforderung an die moderne Umweltethik, an eine Ethik der Mobilität. Diese zu einer ganzheitlichen, angewandten, mit Fachwissen unterlegten Ethik zu entwickeln, hat bereits der Philosoph Hans Krämer gefordert – sie müsse neben Strebenselementen auch Sollenselemente im Sinne von Kant enthalten.
Internationales Verkehrswesen: Sie hatten vorhin das Stichwort konsequentialistische Ethik erwähnt und haben das Thema auch in einem früheren Beitrag ausführlich behandelt. Wo sehen Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen den Positionen, welche hat mehr Bedeutung für das Thema und was wäre Ihre Schlussfolgerung?
Henning Tegner: Ich habe zu dieser Frage ein Konfliktbeispiel konstruiert, das ich dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel zu verdanken habe. Nagel findet im Zusammenspiel von strebensethischen Phänomenen, Pflichtenelementen und konsequentialistischen Elementen einen Großteil der bürgerlichen Moral vor. Ich habe dies heruntergebrochen auf das Beispiel mit der Autofahrt zu Freizeitzwecken: Es kann ja sein, dass mich – auch wenn die Konsequenzen minimal sind und die Emissionen bereits dem Emissionshandel unterliegen – ein schlechtes Gewissen plagt und ich diese Fahrt wirksam kompensieren möchte – unter dem Strich entsteht also ein positiver Nettoeffekt für das Klima. Wenn dann aber jemand daherkommt, beispielsweise aus einer sehr strengen deontologischen Motivation heraus, und mich des Ablasshandels bezichtigt, dann sticht für mich das konsequentialistische Argument, das heißt, ich kann sein Argument zur Kenntnis nehmen, kann es mir aber nicht zueigen machen.
Internationales Verkehrswesen: Was ist Ihr ganz persönliches Fazit für sich selbst, und was würden Sie den Lesern ans Herz legen?
Henning Tegner: Wir sprechen in der Klimadebatte viel von ökologischen oder auch sozialen Kipppunkten; in unserer Fragestellung meine ich, einen moralischen Kipppunkt ausfindig gemacht zu haben. Wenn ich nicht wollen kann, dass alle unbegrenzt Auto fahren, dann befinde ich mich im Sinne Kants in einer unvollkommenen Pflicht. Ich müsste demnach zwar immer mitbedenken, dass ich mit meiner Mobilität Schäden verursachen kann, aber dies hätte keine Konsequenz in jede einzelne Handlung hinein. Nähert sich das Weltklima allerdings erkennbar einem Zustand, den ich nicht mehr nur nicht wollen kann, sondern über kurz oder lang auch nicht mehr konsequent denken, dann müsste ich mein Verhalten im Sinne einer vollkommenen Pflicht tatsächlich stark verändern, dann reicht es auch nicht mehr, auf einzelne Fahrten zu verzichten, dann müsste ich mich möglicherweise tatsächlich auf die Straße kleben. Und diese Erkenntnis fand ich für mich persönlich – ich bin alles andere als ein Anhänger der Letzten Generation – wirklich erschreckend.
Grundsätzlich sollten wir versuchen, zwischen Fakten und Bewertung zu unterscheiden. Lautet die Einschätzung der Faktenlage aber, die Lage des Globus ist ernst – dann würde mir mit Kant jeder moralische Bewertungsspielraum genommen, der Schalter legt sich um. Das ist für mich eine bestürzende Erkenntnis. Um heute mit einem optimistischeren Ausblick zu schließen: Grundsätzlich geht es bei der Ethik nicht nur ums Was-soll-ich-tun, sondern auch um die Frage, welcher Mensch ich sein möchte. Und diese Fragen können wir wohl jedem Mobilitätsnutzer, auch dem überzeugten Autofahrer, mit an die Hand geben: Bin ich im richtigen Verkehrsmittel unterwegs? Tut es mir gut? Tut es anderen gut?
Internationales Verkehrswesen: Ganz herzlichen Dank für das Interview!
Das Interview führte Ulrich Sandten-Ma
Dr. Henning Tegner (56) ist seit 2006 einer der Geschäftsführer des inhabergeführten Beratungsunternehmens KCW GmbH. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bahnmarkt und Bahnpolitik, die Vergabe von Leistungen des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV), Fahrzeugfinanzierungen im SPNV und wirtschaftliche Fragestellungen des ÖPNV. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Münster promovierte er an der TU Berlin zu Fragen der Infrastrukturfinanzierung. Es folgten Stationen beim Forschungs- und Anwendungsverbund Verkehrstechnik Berlin sowie bei einem start-up mit Schwerpunkt Infrastrukturberatung. Mobilitätsethischen Fragestellungen beschäftigen ihn seit 2021.
KCW GmbH
Beratungsschwerpunkt von KCW ist der ÖPNV sowie der Schienenverkehr in Deutschland und Europa. Hier unterstützt KCW vor allem Bund, Länder und Kommunen, Aufgabenträger und Verkehrsverbünde. In den Büros Berlin und Hamburg arbeiten über 70 Menschen aus zahlreichen Fachdisziplinen. 2015 bündelte KCW alle Aktivitäten in Frankreich in seiner Tochterfirma Trans-Missions, die mittlerweile von Paris aus französische Länder und Kommunen berät, insbesondere bei wettbewerblichen SPNV-Vergaben und im ÖPNV.