Mobilität

Verspätungen im Schienenverkehr: Experten der FH Aachen im Interview

Interview FH Aachen Zug-Verspätungen
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Verspätungen beim Zugfahren tauchen im Alltag immer wieder auf. Doch wo ist eigentlich der Haken? Was läuft hingegen gut? Und wie kann man aktuelle Probleme lösen? Prof. Dr. Bernd Schmidt (Fachbereich Maschinenbau und Mechatronik, Lehrgebiet: Elektrische Antriebstechnik) der FH Aachen, Prof. Dr. Haldor Jochim (Fachbereich Bauingenieurwesen, Lehrgebiet: Verkehrswesen) und Prof. Dr. Ingo Elsen (Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik, Lehrgebiet: Big Data) sprechen im FH-Interview über die Zukunft der Schiene.

Umweltfreundlich und sicher — die Schiene hat Zukunft. Und doch ist sie ein ständiges Aufregerthema, vor allem in puncto Pünktlichkeit. Wie schlimm würden Sie die aktuelle Verspätungslage im deutschen Zugverkehr bewerten?
Jochim: Also der Fernverkehr ist mittlerweile schon dramatisch schlecht.

Und der Nahverkehr?
Jochim: Der Nahverkehr ist deutlich besser. Mit gewissen Ausnahmen allerdings: Nordrhein-Westfalen ist da leider äußerst problematisch, hier ist häufig auch der Nahverkehr betroffen.

Die Deutsche Bahn AG gab in einer Pressemitteilung Anfang des Jahres bekannt, dass im Gesamtjahr 2018 eine durchschnittliche Jahrespünktlichkeit von 74,9 % im Fernverkehr und 94 % im Nahverkehr erreicht wurden — damit war die Bahn unpünktlicher als im Vorjahr. Unter diesen Umständen trifft man häufig auf verärgerte Reisende — sind wir heute in Zeiten gesellschaftlicher Beschleunigung vielleicht unzufriedener als früher?
Jochim: Die Bewertung ist wissenschaftlich ganz gut erforscht. Es gab sowohl in den 1990er-Jahren als auch in den 2010ern Kundenumfragen. Und es ist jedes Mal dasselbe rausgekommen. Der Fahrgast bewertet eine Verspätungsminute dreimal so schlimm wie eine zusätzliche Fahrzeitminute. Das scheint eine ziemlich konstante und international gleiche Angelegenheit zu sein.
Schmidt: Und im Vergleich zur Nutzung des eigenen Autos, das auch im Stau stehen kann, ist die Bewertung sogar fünfmal so hoch.

Woher kommt diese Bewertung?
Jochim: Daher, dass die Verspätungen unvorhersehbar sind.
Schmidt: Und weil es die eigene Planung komplett durcheinanderbringt. Das Entscheidende ist die Frage, ob ich meinen Anschluss bekomme.
Jochim: … oder ob ich einen Termin verpasse.
Elsen: Wir wissen aber auch alle, dass, hätten die Leute dieselben 2 Stunden im Stau im Auto verbracht, die Zeit gefühlt viel schneller verflogen wäre. Weil — und das ist ein wesentlicher Punkt — die Leute ihr Auto als ihr Eigentum betrachten. Und bei der Bahn werde ich von jemand Drittem befördert. Persönlich sehe ich das allerdings anders: Ich hasse es, auf langen Strecken Auto zu fahren. Ich sitze hinter dem Lenkrad und denke mir, was hättest du jetzt alles Gutes machen können. Und das ist eigentlich ein wesentlicher Unterschied zum Auto. Man bekommt nützliche Zeit, ich kann lesen, schlafen, essen. Im Auto habe ich die nicht, ich bewege mich nur von A nach B. Und was Verspätungen angeht — mit dem Auto steht man ja wie gesagt schließlich auch irgendwo im Stau.
Was aber in den vergangenen Jahren ein großes Problem der Bahn war: Die Verspätungsinformationen stimmten oft nicht. Mein persönliches Erlebnis als Beispiel: Ich stehe am Aachener Hauptbahnhof. Der ICE aus Brüssel wird verspätet angekündigt, 10 Minuten, 25 Minuten, 45 Minuten. Die ganzen Gäste gehen runter in den Bahnhof und auf einmal kommt der Zug dann doch nur mit 10 Minuten Verspätung. Keiner bekommt die Durchsage mit, der ICE fährt durch und unten stehen dann 30 „extrem gut“ gelaunte Geschäftsreisende. Das ist aber in letzter Zeit dank des neuen Prognosesystems besser geworden, auch wenn das das eigentliche Problem nicht löst.

Und worin sehen Sie die Gründe für die Verspätungen?
Jochim: Das Blöde ist, der Hauptgrund für Verspätungen sind Verspätungen.Das betrifft auf jeden Fall über die Hälfte der verspäteten Züge. Warum die vorausfahrenden Züge aber wiederum verspätet sind, kann man oft nicht mehr nachvollziehen. Ein Grund dafür ist aber mit Sicherheit, dass heute viel mehr Züge auf den Strecken rumfahren als vor 20 bis 30 Jahren.
Elsen: Genau, es handelt sich unter anderem um eine Frage der Kapazität des Netzes …
Jochim: … und das hat nicht Schritt gehalten.
Schmidt: Es kommt aber auch aus Managementproblemen, aus Materialproblemen oder auch aus politischen Weichenstellungen. Hinzu kommt die Fragmentierung der Arbeit: Die Fahrgastinformationen werden von der einen Gesellschaft erstellt, die Gleise von einer anderen, die Wagenumlaufplanung von einer dritten Gesellschaft und die Wartung der Züge von einer vierten. Pauschal eine Ursache zu suchen, da wäre ich extrem vorsichtig.
Elsen: Plus: Die Systeme, die für die Reiseinformationen genutzt werden, werden aus verschiedensten anderen Systemen gespeist. Da eine einheitliche Sicht auf alle Daten zu bekommen, ist eine große Herausforderung.

Stichwort IT-technische Katastrophe: Helfen uns digitale Ansätze eigentlich wirklich immer weiter?
Schmidt: Wenn ich ein System habe und versuche, den Menschen rauszunehmen, dann muss ich erst mal schauen: Was hat zum Beispiel der Bediener des Stellwerks hier gemacht? Das beste Beispiel: Als das Stellwerk des Aachener Hauptbahnhofs nach Duisburg verlagert wurde, haben wir etwa 15 Prozent Leistungseinbuße gehabt. Und zwar nur dadurch, dass in Duisburg kein Fenster mehr existiert. Der Bediener des Stellwerks sieht die einfahrenden Züge nicht mehr und genauso wenig, wie viele Personen auf dem Bahnsteig stehen und wie sinnvoll ein Gleiswechsel in Anbetracht dessen wäre.
Elsen: Hinzu kommt, dass ich die Kapazität, wenn sie schon an der Grenze ist, nur schwer besser auslasten kann. Und das ist ein Problem, das Digitalisierung im ersten Moment gar nicht löst. Wenn ich erfahrene Leute an diesen Punkten sitzen habe, die die Züge, sobald es geht, durchwinken, dann muss ich diese Erfahrungen erst mal als Daten verarbeiten und in ein System einspeisen.
Jochim: Das ist der Punkt. Das typische Problem aller digitalen Systeme ist, dass das Bauchgefühl des Menschen und dessen Erfahrung sehr schlecht abbildbar ist.

Und hier hat man noch keine passenden Algorithmen gefunden, um genau dieses Bauchgefühl abzubilden?
Jochim: So ein Algorithmus ist sehr schwer hinzubekommen.
Schmidt: Der Mensch kann es da oft einfach besser.
Jochim: Ja, der Mensch kann es besser, weil er trotz der unvollständigen Informationen Entscheidungen trifft.
Elsen: Das würde ich so nicht pauschal unterschreiben. Man kann viel mit datenangetriebenen Ansätzen machen — nachweislich geht es bei der Prognose so deutlich besser. Es gibt aber Fälle, die zu kompliziert sind, um sie abzubilden.
Schmidt: Ein anderer Punkt sind die Ansagen am Bahnhof: Ich kenne das noch von früher: Da wurden vom Fahrdienstleiter zwischendurch Ansagen an Bahnhöfen gemacht und Gleiswechsel und Verspätungen rechtzeitig durchgegeben. Aber wenn diese Ansage eines Gleiswechsels von einer Automatikstimme, 2 Minuten bevor der Zug einfährt, kommt, dann herrscht Hektik. Grund dafür ist, dass der Computer, bevor der Zug nicht über das Fahrelement gefahren ist, das nicht mitbekommt.
Jochim: Ich bin allerdings vorsichtig bei der Huldigung der guten alten Zeit, weil die Durchsage vom Fahrdienstleiter auch früher nie konsequent gemacht wurde. Das wurde bei Zeit und Lust gemacht. Und wenn der Bahnhofsleiter keine Zeit und Lust hatte, hat er es eben nicht gemacht.
Schmidt: Ja, aber grundsätzlich gilt: Wenn man Innovation macht, muss das neue Zeug mindestens so gut sein wie das alte. Und nicht schlechter.

Die Bundesregierung nimmt sich in ihrem Koalitionsvertrag vor, die Anzahl der Zuggäste bis 2030 zu verdoppeln. Ist das realisierbar?
Jochim: Natürlich ist es realisierbar, nur nicht bis 2030.
Elsen: Das ist eher ein Projekt für die nächsten 25 Jahre, da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Verspätungen hier, Verspätungen da. Wenn ich mehr Leute dazu bewegen möchte: „Fahrt mit der Bahn!“, dann muss ich erst mal dafür sorgen, dass die Bahn ein ganz anderes Image bekommt. Pünktlichkeit ist da wesentlich. Wenn nach wie vor durch die Köpfe der Leute geistert, dass die Bahn vier Probleme hat, nämlich Frühling, Sommer, Herbst und Winter, dann werde ich keinen dazu bewegen, mit der Bahn zu fahren. Allerdings verstehe ich auch nicht, wie sich jemand in der Politik dazu hinreißen lassen kann zu sagen, ich möchte doppelt so viele Leute auf die Schiene bringen, und gleichzeitig nicht zu sagen, dass er dafür in den nächsten 15 Jahren 100 Milliarden Euro in die Hand nimmt. Denn das wird es kosten.
Schmidt: Bis 2030 ist das vom Planungshorizont unzureichend. Meiner Meinung nach wird es darauf hinauslaufen, im Fernverkehr mit Doppelstöckern zu arbeiten — das haben die Franzosen sehr erfolgreich gemacht.

Wenn so viele Probleme da sind, aber gleichzeitig viele Lösungsansätze in Ihren Köpfen schwirren: Wie bereiten Sie dann die Studierenden hier an der FH auf die Zukunft der Schiene vor?
Elsen: Als Fachhochschule waren wir schon immer gut darin, Expertise aus der Industrie zu holen. Was wir im Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik aktuell machen, sind interdisziplinäre Labore. Nicht nur Informatik oder E-Technik-Labore, sondern eben breiter aufgestellte Labore. So können Elektrotechniker, Informatiker und Wirtschaftsinformatiker Säulen durchbrechen.
Schmidt: Im Studiengang Schienenfahrzeugtechnik am Fachbereich für Maschinenbau und Mechatronik gehen wir auf bahnspezifische Dinge ein und machen Praxisphasen in den Unternehmen.
Jochim: Wir haben schon gemeinsame Projekte und Exkursionen — wann immer es sich ergibt.
Elsen: Es gibt hier kein Silodenken wie an Universitäten und dadurch ist die Schwelle auch gesenkt, fakultätsübergreifend zu arbeiten.
Jochim: Bauingenieurwesen und Maschinenbau sind auch in unserer Hochschule traditionell zwei verschiedene Fachbereiche, die Elektrotechnik ist ein dritter Fachbereich und wir haben alle unsere Eisenbahnprofessoren, die ihre Studierenden ausbilden. Das Problem ist, dass viele junge Leute bei ihrer Studienwahl nicht abschätzen können, inwiefern das überhaupt Bahninhalte hat. Und ob sie diese überhaupt studieren wollen, das ist total zufallsabhängig. Vor allem hier in Aachen, wo die Bahn so eine geringe Rolle spielt, weil es keine Straßenbahn gibt. Die Studierenden hier aus der Region, vor allem aus dem ländlichen Raum, sind überhaupt nicht bahnaffin und haben im ersten Moment keinen Bezug dazu.

Und wie sieht die Zukunft der Studierenden aus?
Schmidt: Was völlig unterschätzt wird, sind die guten Berufsaussichten. Unsere Leute, die hier rauskommen, sind mit einem Faktor von 3 bis 4 überbucht. Die Bahnleute schreien nach Eisenbahntechnikerinnen und -technikern.
Elsen: Wir müssen in den Köpfen verankern, dass das Auto nicht die zukünftige Mobilität widerspiegelt. Und wenn das in den Köpfen drin ist, dann ist es auch leichter, interessierte junge Menschen dazu zu gewinnen, sich in die Bahnrichtung zu vertiefen.
Jochim: Also ich träume schon lange von dem interdisziplinären Studiengang Mobilität …
Elsen: Also das fände ich auch toll! Denn das ist eines der gesellschaftlichen Themen der nächsten 30 Jahre.

Quelle: www.fh-aachen.de


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