Die Terroranschläge auf die Métro in Brüssel im März 2016 haben gezeigt, wie angreifbar der Schienenverkehr im Hinblick auf terroristische Bedrohungen sein kann. Sicherheitskonzepte und strategische Sicherheitsanalysen, die vor möglichen Attacken schützen, sind unerlässlich. Experten des Fraunhofer-Instituts für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE haben nun ein Sicherheitsassistenzsystem zur Bombenwarnung vorgestellt.
Durch ihr offenes, großflächig verteiltes Netz stellen die Hochgeschwindigkeitszüge ICE und TGV das Sicherheitsmanagement vor besondere Herausforderungen. Sorgen bereitet Fachleuten und Politikern der mögliche Einsatz schmutziger Bomben. Experten befürchten, dass Terroristen konventionellem Sprengstoff radioaktives Material beimischen könnten, das durch die Explosionswirkung verteilt wird. Die Gefahr ist real, der IS gibt beispielsweise an, über radioaktive Stoffe zu verfügen.
Das Sicherheitsassistenzsystem erkennt radioaktive Stoffe auch in Menschenmengen
Ein von Fraunhofer-Forschern entwickeltes neues System soll künftig potenzielle Träger von radioaktiven Stoffen sogar in großen Menschenmengen identifizieren. Die Lösung ist eine von vielen Abwehrmaßnahmen, die im Projekt REHSTRAIN umgesetzt werden. Im Fokus des Vorhabens steht die Sicherheit der deutsch-französischen Hochgeschwindigkeitszüge ICE und TGV.
Die für den Bau von schmutzigen Bomben erforderlichen Radioisotope wie Cäsium 137, Cobalt 60, Americium 241 oder Iridium 192 sind leichter zu beschaffen als spaltbares Material für Kernwaffen – schmutzige Bomben sind keine Kernwaffen, bei deren Zündung ein nuklearer Kettenprozess abläuft: Radioisotope werden in vielen nuklearmedizinischen Abteilungen von Krankenhäusern oder in Forschungszentren genutzt, kommen aber auch für die Werkstoffprüfung in Industrieanlagen zum Einsatz.
„Fünf Gramm Cäsium – verteilt mit einigen Kilogramm Sprengstoff – reichen aus, um einen Schaden in Milliardenhöhe zu verursachen, ganz zu schweigen von den psychosozialen und gesundheitlichen Folgeschäden“, sagt Prof. Dr. Wolfgang Koch, Leiter der Abteilung Sensordaten und Informationsfusion am Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE. „Zwar riskieren potenzielle Bombenbauer den Strahlentod, das dürfte Terroristen jedoch nicht abschrecken.“
Ein Assistenzsystem, das radiologische Gefährder in einem Personenstrom erkennt und das Sicherheitspersonal alarmiert, ist der Beitrag des Wachtberger Instituts zum deutsch-französischen Projekt REHSTRAIN, das die Verwundbarkeit der Hochgeschwindigkeitszüge ICE und TGV erforscht (siehe Info unten). Das Fraunhofer FKIE entwickelt das System im Unterauftrag der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Datenschutz wird großgeschrieben
Das Sicherheitsassistenzsystem setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen: einem Sensornetzwerk, handelsüblichen Kinect-Kameras sowie einer Software zur Datenfusion. Das Sensornetzwerk besteht aus Gammaspektrometern, die Gammastrahlen detektieren und klassifizieren. „Die meisten für radiologische Bomben in Frage kommenden Stoffe senden Gammastrahlen aus, die sich nicht abschirmen lassen. Daher bedienen wir uns dieser Art von Sensoren“, erläutert Koch.
In der nächsten Ausbaustufe erkennt das System, um welche Substanz es sich handelt, und unterscheidet zudem, ob sie am Körper mitgeführt wird oder ob sie sich im Körper befindet – etwa weil eine Person aus gesundheitlichen Gründen Medikamente wie radioaktives Jod einnehmen muss. Doch obwohl einzelne Sensoren Daten über die Art und Intensität des radioaktiven Stoffs liefern, sind sie nicht in der Lage, ihn zu lokalisieren. Hierfür ist ein Netz aus verteilten Gammasensoren erforderlich, die mit Kinect-Kameras aus der Spieleindustrie verknüpft sind.
Deren Vorteil: Die Kameras liefern neben Bildern auch Entfernungsinformationen. An der Decke montiert, nehmen sie Menschenmengen wie ein Hügelgebirge wahr, auf diese Weise können selbst dichte Personenströme präzise getrackt werden. „Wir wissen zu jedem Zeitpunkt wo sich Person XYZ befindet. Die Identität kennen wir natürlich nicht – ein wichtiger Aspekt, was den Datenschutz anbelangt“, so der Mathematiker und Physiker. Die biometrische Erfassung potenzieller Gefährder solle nur nach hinreichendem Verdacht erfolgen.
System identifiziert Gefahrstoffträger eindeutig
Die derart vernetzten Geräte erfassen Menschen also zeitlich und räumlich, die Daten werden fusioniert. Dank ausgeklügelter mathematischer Auswertealgorithmen werden die gewünschten Informationen aus den riesigen Datensätzen herausgefiltert. „Wir bedienen uns hier künstlicher Intelligenz. Mithilfe der Algorithmen errechnen wir den Bewegungsverlauf einer Person, die allein sich den Messdaten der Gammasensoren zuordnen lässt. Damit ist der potenzielle Attentäter identifiziert“, erläutert der Forscher.
An neuralgischen Punkten angebracht – also in Eingangsbereichen, Auf- und Abgängen von Bahnhöfen, Flughäfen oder anderen öffentlichen Gebäuden –, könnten solche Assistenzsysteme künftig Informationen über radiologische Gefährder an die Überwachungssysteme etwa der Verkehrsbetriebe übertragen. Die Frage des Zugriffs obliegt dem Sicherheitspersonal und der Polizei.
Im Labor wurde das System der Wachtberger Forscher bereits unter Aufsicht eines Strahlenschutzbeauftragten erfolgreich getestet. Das Fraunhofer FKIE verfügt über die Erlaubnis, mit schwach radioaktiven Substanzen zu experimentieren. Offiziell vorgestellt wurde REHSTRAIN bereits im Rahmen eines Projekt-Workshops am Fraunhofer FKIE, an dem neben den Partnern aus Deutschland und Frankreich auch potenzielle Endnutzer teilgenommen haben.
Über REHSTRAIN
Um die Sicherheit der Reisenden auch im grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu gewährleisten, untersuchen die Partner im Projekt „Resilience of the Franco-German High Speed Train Network“ (REHSTRAIN) die Verwundbarkeit der deutsch-französischen Hochgeschwindigkeitssysteme mit Blick auf das Szenario einer terroristischen Bedrohung. Zahlreiche Maßnahmen der Gefahrenabwehr sollen die kritische Infrastruktur Bahn besser schützen und die Sicherheitserfordernisse an sich verändernde Bedrohungen anpassen. Untersucht wird unter anderem die Rauchausbreitung in Tunneln ebenso wie das Bauwerksverhalten von Tunneln nach einer Explosion oder einem Brand.
Die Erkenntnisse werden in ein sogenanntes Management-Cockpit überführt, das unter anderem das komplette Streckennetz abbildet. Die Software für den komplexen Sensorverbund soll mithilfe von künstlicher Intelligenz helfen, Anschläge vorzubeugen sowie die Folgen eines Anschlags schnell und nachhaltig zu bewältigen – etwa durch alternativ berechnete Routen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF geförderte Projekt läuft noch bis Januar 2018. Initiator und Verbundkoordinator ist Prof. Dr. Stefan Pickl von der Universität der Bundeswehr München.
Weitere Informationen: http://www.sifo.de/files/Projektumriss_REHSTRAIN.PDF