Standpunkt

Kein „Weiter so“: Lieferketten und Transportstrategien neu denken

Ein Statement von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Dietrich Haasis, Lehrstuhl für Maritime Wirtschaft und Logistik an der Universität Bremen und Mitglied im Herausgebergremium von Internationales Verkehrswesen.

Während noch vor wenigen Jahren Lieferketten und Transport­strategien in erster Linie unter den Zielgrößen Zeit und Kosten gestaltet, verbessert und betrieben wurden, lernen wir gerade bitter, dass ein „Weiter so“ bei offen sichtbaren und teilweise vor kurzem noch kaum vorstellbaren Einflüssen auf die Weltwirtschaft nicht möglich sein wird.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist verbunden mit immenser Zerstörung und übergroßer humanitärer Not, voraussichtlich über Jahre. Aus logistischer Sicht brechen Beschaffungsmärkte weg und verändern sich Lieferketten.

Die seit mehr als zwei Jahren vorherrschende Corona-Pandemie führt, wie jüngst unter anderem durch den Lockdown in Shanghai und seine Folgen für den Betrieb des weltweit größten Container­hafens, zum zeitweisen Abbruch von Lieferketten und zu Liefer­eng­pässen.

Der seit Jahrzehnten bekannte Klimawandel wird ohne massive Veränderungen in der Energienutzung und in den Lebensstilen weiter zu Wetterextremen führen und das Zusammenleben und die Existenz von Generationen bedrohen. Lieferketten und Transportstrategien basieren daher künftig auf alternativen Kraftstoffen und neuen Transportsystemen.

Durch neue Internet-basierte digitale Technologien ist die digitale Transformation von Wirtschaftsprozessen und die damit verbundene Veränderung der Kommunikation und des Informations­austauschs in Wirtschaft und Gesellschaft nicht aufzuhalten. Zur Sicherstellung der Verlässlichkeit von Lieferketten und Transport­strategien ist es für Unternehmen unerlässlich, nicht in die hierbei zunehmend sichtbare digitale Spaltung oder digitale Kluft zu fallen, sondern mit der digitalen Transformation Schritt zu halten.

Das zum Januar 2023 in Kraft tretende Lieferketten­sorgfalts­pflichten­gesetz zielt, wie auch der noch striktere Entwurf des EU-Lieferketten­gesetzes, auf das Einhalten von Menschenrechten, von Gesundheitsschutz, von Arbeitsschutz und Umweltschutz. Es schafft ein Instrumentarium, um im globalen Handel entsprechende Standards einzu­halten und zu kontrollieren. Lieferketten und Transport­strategien werden nach­haltiger im Sinne der Nachhaltigkeits­ziele der Vereinten Nationen.

Weit mehr als bislang ist es daher notwendig, die derzeitigen Lieferketten und Transport­strategien unter den Aspekten Resilienz und Verlässlichkeit, Digitalisierung und Automatisierung, Klima und Energie sowie Gesundheit und Menschenrechte wirtschaftlich neu zu denken. Allein das Ausnutzen von Größen­degressions­effekten zur Kosten­einsparung oder die Verfügbarkeit von Infrastruktur reichen nicht mehr aus, Lieferketten und Transportstrategien für die nächsten Jahre sicher betreiben zu können.

Entscheidungsträger in Unternehmen sind gut beraten, rechtzeitig alternative Lösungen in Projektteams durch jeweils antizipierte Unternehmensentwicklungen erarbeiten zu lassen. Methoden aus der Innovations- und Zukunftsforschung sind hierbei gut einsetzbar, etwa das Konzept des Design Thinking. Künftige Ereignisse und mögliche Engpässe sind dabei bereits in der Kostenbewertung zu berücksichtigen. Die verlässliche, aber flexible Verfügbarkeit von Transport- und Lagerkapazitäten, von einsetzbarem Personal, von sicheren Daten und Informationen, von erneuerbaren Energieträgern, von Finanzierungs­quellen und von Beschaffungsmärkten ist für eine Versorgungs­sicherheit entscheidend. Eine gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit in der Lieferkette und sogar eine Koopetition zwischen Wettbewerbern kann unterstützen, Lieferketten sicherzustellen, Engpässe zu vermeiden und Transport­strategien zuverlässig zu gestalten.

Anregungen dazu finden Sie unter anderem in der Mai-Ausgabe 2022 von Internationales Verkehrswesen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.


Veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen (74), Heft 2/2022