Politik: Strategie

DZSF-Fachtagung: Begleitforschung zum 9-Euro-Ticket

DZSF-Fachtagung: Begleitforschung zum 9-Euro-Ticket
Symbolbild: Michael Gaida | pixabay

[DZSF] Das 9-Euro-Ticket wurde durch viele unterschiedliche Forschungs- und Evaluierungsprojekte begleitet. Das DZSF hat diese am 4. November 2022 in einer Fachtagung zusammengebracht.

Die Einführung des 9-Euro-Tickets im Sommer 2022 war ein besonderes Ereignis. Initiiert als Teil des Entlastungspakets der Bundesregierung angesichts von Inflation und massiv gestiegener Energiepreise wurde es schnell auch zu einem wichtigen Faktor auf dem Weg hin zu einem klimaneutralen Verkehrssektor. Durch günstiges und simples Reisen mit dem Nahverkehr über Tarifgrenzen hinweg wurden Menschen motiviert, Bus und Bahn häufiger zu nutzen. Für die Wissenschaft war es dadurch gleichzeitig ein einmaliges Experiment, um zu untersuchen, ob und wie eine solche großflächige politische Maßnahme das Mobilitätsverhalten tatsächlich beeinflussen kann. Eine entsprechend große Anzahl an Forschungsprojekten, aber auch umfangreiche Datenerhebungen bei Verbänden und von Datendienstleistern wurden während des Zeitraums der 9-Euro-Ticket-Aktion durchgeführt. Aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit sind viele dieser Projekte unabhängig voneinander entstanden, bislang gab es wenig Vernetzung. Das Deutsche Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) hat daher unterschiedliche Begleitforschungsprojekte in einer Fachtagung zusammengebracht. Im Mittelpunkt stand die Frage, was die Mobilitätsforschung aus den Erfahrungen dieser Projekte lernen kann und welche Methoden und Ansätze für zukünftige Evaluation verkehrspolitischer Maßnahmen wichtig sind.

Eröffnet wurde die Fachtagung von Prof. Dr.-Ing. Corinna Salander, Direktorin des DZSF. Sie hob die außergewöhnliche Gelegenheit hervor, die die Einführung des 9-Euro-Tickets für die Wissenschaft geschaffen hatte: Wahrscheinlich nie zuvor gab es die Möglichkeit, die Wirkung eines politischen Steuerungsinstruments auf Mobilitätsverhalten so direkt zu untersuchen. Auch die Staatssekretärin im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), Susanne Henckel, betonte die Rolle des Tickets als Pilotversuch. Das Ticket habe gezeigt, dass ein einfaches und transparentes Ticketsystem viele Menschen von der Nutzung des ÖPNV überzeugt. Angesichts des geplanten „Deutschlandtickets“ sind auch bereits langfristige Veränderungen in der Verkehrspolitik sichtbar.

Einstellungen zum 9-Euro-Ticket und tatsächliches Mobilitätsverhalten
Der erste Teil der Tagung widmete sich dem Unterschied zwischen Einstellungen und Mobilitätsverhalten. Die Begleitforschungsprojekte haben über unterschiedliche Umfragen und durch gezielte Datenanalysen von Verhaltensdaten gezeigt, dass auch beim 9-Euro-Ticket die Bewertung des Tickets vom tatsächlichen Verhalten zum Teil abweicht. Dr. Till Ackermann stellte die umfangreiche Marktforschung des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) vor, in deren Rahmen während der gesamten Ticketlaufzeit in wöchentlichen Befragungen rund 80.000 potenzielle Fahrgäste befragt wurden. Danach kennen fast alle das Ticket, etwa die Hälfte der Befragten hat das Ticket auch gekauft. Laut der Befragten sind rund 10 % der Fahrten Ersatz für PKW-Fahrten gewesen. So wurden nach Berechnungen des VDV dank der Aktion insgesamt rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart.

Eine Untersuchung der Forschungsgruppe Flexibel Transport Systems and Urban Dynamics der TU Dresden beschäftigte sich mit den Kaufmotiven und der Zahlungsbereitschaft für ein deutschlandweites ÖPNV-Ticket. Ähnlich wie in der zuvor vorgestellten VDV-Studie waren die niedrigen Kosten Hauptmotiv für den Kauf eines 9-Euro-Tickets. Außerdem wurde aber auch umweltbewusstes Verhalten genannt. Gründe gegen den Kauf eines Tickets lagen vorwiegend in nicht ausreichender Infrastruktur. Auch dieses Ergebnis wird in einigen anderen Untersuchungen im Laufe der Fachtagung bestätigt. Für ein Folgeticket war für rund die Hälfte der Befragten ein Preis von 49 Euro pro Monat gerade noch akzeptabel. Die Ergebnisse beider Befragungen zeigten, dass auch bei sehr unterschiedlichen Samplingstrategien in zentralen Fragen vergleichbare Ergebnisse erzielt wurden.

Neue Ansätze zur Mobilitätsanalyse erprobt das Statistische Bundesamt. Gemeinsam mit einem Datenanbieter wurden im Ticketzeitraum Mobilfunkdaten genutzt, um Bewegungen nachzuvollziehen. Ab einer Entfernung von 30 km ist eine Zuordnung zum Verkehrsträger Straße oder Schiene möglich. Hieraus können leichte Verlagerungseffekte vom Straßen- auf den Schienenverkehr für den Ticketzeitraum nachgewiesen werden. Der Vortrag zeigte spannende Möglichkeiten für zukünftige Mobilitätsanalysen in Bezug auf Datengrundlagen und deren Beschaffung. Mit Mobilfunkdaten sind vergleichsweise effektive Einblicke in kleinere geografische Bereiche möglich, welche sonst nur mit hohen Aufwand möglich wären.

Ein Blick auf die Nutzungsveränderungen im Hamburger Verkehrsverbund (hvv) zeigte ebenfalls eine Verkehrsverlagerung von PKW in den ÖPNV. Die Geschäftsführerin des hvv, Anna-Theresa Korbutt, zeigte Ergebnisse von Fahrgastbefragungen und Fahrgastzählungen. Danach hat das Ticket ganz zentral dazu beigetragen, den Fahrtgastrückgang durch die Coronapandemie wieder auszugleichen. Allerdings sei seit Ende des Ticketzeitraums wieder ein Rückgang erkennbar, der daraufhin deutet, dass das Ticket ohne weitere Maßnahmen keine Langzeitwirkung entfalten kann.

Die Vielfalt der Begleitforschung
Die Vielfältigkeit der Begleitforschung wurde im zweiten Teil der DZSF-Tagung weiter verdeutlicht. Sechs weitere Projekte präsentierten dazu in parallelen Sessions ihre Ergebnisse. Die Wirkung des Tickets auf die soziale Teilhabe von Nutzenden wurde mittels einer qualitativen Interviewstudie an der TU Hamburg sowie einer Haushaltsbefragung der FH Erfurt untersucht. Beide Projekte zeigten, wie wichtig das Ticket gerade für alle mit geringem Einkommen war: Es ermöglichte ihnen Mobilität im Nahbereich, Familienbesuche und Ausflüge, auf die sie sonst verzichten.

Zwei Panelstudien, die in mehreren Wellen die Entwicklung von Mobilitätsverhalten über den dreimonatigen Zeitraum untersuchten, bestätigten diese Wirkung. Besonders die Akzeptanz eines Nachfolgetickets ist in den unteren Einkommensgruppen hoch, wenn der Preis deutlich unter den avisierten 49 Euro pro Monat liegt. Hier wurden in beiden Befragungen, dem Projekt Mobilität.Leben der TU München und der Untersuchung der Radverkehrsprofessur an der Universität Kassel ein Beitrag von rund 30 Euro pro Monat genannt, der für Befragte mit geringerem Einkommen akzeptabel wäre.

Zwei weitere sehr unterschiedliche Datenerhebungen rundeten die methodische Vielfalt der vorgestellten Projekte ab: Die Daten des Navigationsdienstleisters TomTom GmbH liefern die Grundlage für repräsentative Aussagen zu Verkehrsveränderungen auf deutschen Straßen. Damit wurde im Ticketzeitraum die Stauentwicklung in mehreren Großstädten untersucht. Es zeigte sich, dass das Stauniveau in den Sommermonaten in 23 von 26 Städten gesunken war, vermutlich durch die Nutzung des Tickets anstelle von PKW-Mobilität. Außerdem hatte der BUND Bayern eine Befragung in seinem Mitgliederumfeld durchgeführt und gezeigt, dass sich die Nutzung und die Bewertung des Tickets in diesem sehr umweltbewussten Umfeld nicht deutlich von den allgemeinen Marktforschungen, u.a. des VDV, unterscheidet. Das deutet darauf hin, dass die Nutzungsmotivation insgesamt hoch ist, die genannten Probleme bei Infrastruktur, Taktung und Erreichbarkeit des Öffentlichen Verkehrs jedoch gelöst werden müssen, um die Verkehrswende weiter voranzutreiben.

Die Dokumentation der DZSF-Fachtagung und die Vorträge sind online abrufbar.