Standpunkt

Rücksicht, Vorsicht, Weitsicht

Hans-Dietrich Haasis

Ein Statement von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Dietrich Haasis, Lehrstuhl für Maritime Wirtschaft und Logistik an der Universität Bremen und Mitglied im Herausgebergremium von Internationales Verkehrswesen.

Hoffmann & Hoffmann sangen 1983 das Lied „Rücksicht“ auf dem Eurovision Song Contest in München. Der Text ist von Volker Lechtenbrink, die Musik stammt von Michael Reinecke. 1997 gab es eine Coverversion von Mary Roos. Warum erinnere ich mich an dieses Lied? Nur zu gut passen, natürlich im übertragenen Sinne, die damals ins Rampenlicht gerückten Begriffe zur aktuellen coronageprägten Lebens- und Wirtschaftssituation: Rücksicht, Nachsicht, Vorsicht, Einsicht, Weitsicht. Sind dies die Leitideen, welche künftig Mobilitäts- und Logistikstrategien beeinflussen werden?

Das aktuelle Heft von Internationales Verkehrswesen ist geprägt durch coronabezogene Beiträge. Ich bin sicher, man kann diesen jeweils zumindest einen der obigen Begriffe zuordnen. Aber auch auf die anderen Beiträge, etwa zu Tempolimit auf Autobahnen oder zu CO2-Emissionen im Seeverkehr, können diese übertragen werden.

Seit Beginn der sogenannten Corona-Krise in Deutschland im März 2020 ist zumindest eines deutlich geworden: Güterverkehr und Logistik sind systemrelevant. Die Resilienz von Versorgungsketten, etwa bei einem Nachfrageeinbruch oder einem politisch angeordneten Abriss von Lieferketten, ist entscheidend für eine auch nur annähernde Aufrechterhaltung der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen. Insoweit sind, zumindest aus meiner Sicht, die bisherigen Mobilitäts- und Logistikstrategien jetzt zu überdenken, und zwar durchaus im Sinne der genannten Begriffe:

Rücksicht. Hier geht es nicht allein um die Einhaltung von Abstandsregeln und das Tragen von Masken beim Einkaufen oder am Arbeitsplatz, sondern in erster Linie um die Rücksichtnahme auf Partner in der Versorgungskette und am Standort. Eine bewusstere Strategie der gegenseitigen Unterstützung, der Zusammenarbeit in der Kette und der Koopetition zwischen Wettbewerbern kann helfen, Engpässe zu vermeiden und Lieferketten sicherzustellen.

Nachsicht. Wir müssen lernen, dass „one hour delivery“ oder „just in time“ nicht unbedingt die entscheidenden Qualitätskriterien einer logistischen Leistung sind, sondern vielmehr Versorgungsfähigkeit und Versorgungszuverlässigkeit. Fehlbestände können vorkommen, produktionswirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen sind teilweise zeitintensiv. Diese Nachsicht lässt sich von allen Beteiligten üben und akzeptieren, sofern eine qualifizierte und zeitnahe Informationspolitik sowie eine vertrauensvolle und gegenseitig unterstützende Kollaboration in der Versorgungskette sichergestellt sind.

Vorsicht. Eine passende Vorbereitung auf künftige Störfälle lässt sich durch ein gutes Maß an Vorsicht gestalten. Hilfreich hierbei sind Frühwarnsysteme im Unternehmen und die Implementierung von versorgungsketten-spezifischen Krisenmanagementsystemen. Ebenfalls sind hier die Anpassung der Bestandspolitik und der Bevorratung insbesondere für kritische Güter zu nennen.

Einsicht. Mobilitäts- und Logistiksysteme sind gegenüber Störungen anfällig, seien sie intern durch Kapazitätsengpässe oder extern durch politisch vorgegebene Randbedingungen veranlasst. Mit dieser Einsicht ist es nun für Wirtschaftsunternehmen an der Zeit, Maßnahmen zur Erhöhung von Resilienz verfügbar zu haben; also zum Beispiel optionale logistische Versorgungsketten aktivieren oder vorab entwickelte alternative unternehmerische Zukunftsszenarien umsetzen zu können. Ebenfalls bedarf es einer Entscheidungsfolgen-Abschätzung und damit einer verlässlichen und vor allem frühzeitigen Kommunikation zwischen Politik und Wirtschaft.

Weitsicht. Bereits heute ist es wichtig, aus den Erfahrungen der letzten Monate für die Zukunft zu lernen. Dieses bedeutet ohne Zweifel, Forschung für den systemrelevanten Sektor Güterverkehr und Logistik jetzt zu initiieren, sowohl auf staatlicher als auch auf privatwirtschaftlicher Ebene. Unternehmen kann nur empfohlen werden, anwendungsorientierte staatliche Forschungsprogramme in Anspruch zu nehmen und die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft zu forcieren, um die Widerstandsfähigkeit und die Innovationskraft des Unternehmens für die Zukunft auszubauen.

Geben Ihnen diese skizzierten Überlegungen einen Anstoß, Ihre Strategien neu zu denken? Entscheiden Sie selbst. Das Anhören des genannten Liedes hilft, es bleibt im Ohr. Ich wünsche Ihnen hierbei viele gute Ideen, und natürlich viel Freude beim Lesen der aktuellen Ausgabe von Internationales Verkehrswesen.


Veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen (72), Heft 3 | 2020