Ein Statement von Univ.-Prof. Dr. Sebastian Kummer, Vorstand des Institutes für Transportwirtschaft und Logistik, Wirtschaftsuniversität Wien
Es ist schon ein interessantes Phänomen: Obwohl die Bahn vielen Herausforderungen gegenübersteht und das Service-Niveau der Bahn in Deutschland derzeit katastrophale Werte erreicht, diskutiert man im deutschen und österreichischen Schienenpersonenverkehr wie im Öffentlichen Verkehr insgesamt schwerpunktmäßig über tarifpolitische Themen. Trotz des ohnehin großen Unterschieds zwischen PKW-Kosten und Kosten des Öffentlichen Verkehrs stehen dabei insbesondere preissenkende Maßnahmen im Fokus.
Obwohl in der Theorie die Fehlleitung der Nachfrage bekannt ist, wenn Grenzkosten – also Kosten, die durch die Bereitstellung einer zusätzlichen Produktmenge oder Dienstleistung entstehen – gleich Null sind, und obwohl es durchaus gemischte Erfahrungen mit dem schweizerischen General-Abo gibt, wurde in Österreich das so genannten Klimaticket und in Deutschland zunächst ein 9-Euro- und jetzt das 49-Euro-Ticket eingeführt. Gut – man kann sich natürlich auch neuen Diskussionsbedarf selbst schaffen, statt die Probleme in der Leistungserstellung anzugehen.
Besonders aberwitzig ist, dass Vertreter*innen, die das 9-Euro-Ticket bejubelten, nun auch das 49-Euro-Ticket mit gleichem Enthusiasmus feiern. Als Ökonom muss ich feststellen, dass bei einem mehr als fünffachen Preisunterschied innerhalb eines Jahres zumindest einer der beiden Preise wohl „falsch“ ist.
Vielleicht ist aber auch der Öffentlichkeit die dramatische Situation, in der die Pünktlichkeit des Fernverkehrs der Deutschen Bahn befindet, nicht bekannt. Im März fiel diese Pünktlichkeit auf 68,4 % – und das trotz des Tricks, ausgefallene Züge oder Zughalte nicht als unpünktlich zu werten. Aus Sicht des Fahrgastes ist der komplett ausgefallene Zug ja noch schlimmer, in der DB-Statistik zur Pünktlichkeit macht es sich jedoch besser, verspätete Züge einfach gar nicht fahren zu lassen.
Vielleicht hat sich Deutschland auch einfach mit der – auch im weltweiten Vergleich – beschämenden Leistung arrangiert. Viele nehmen aus Furcht, irgendwo zu stranden, nie mehr den letzten Zug vor Betriebsschluss. Zustände, wie sie in anderen Bereichen undenkbar sind – stellen Sie sich bloß mal einen industriellen Prozess wie die Herstellung eines Autos mit nur 68,4 % Zuverlässigkeit vor.
Als Wissenschaftler wissen wir, dass sich die Zuverlässigkeit eines Gesamtsystems aus der Multiplikation der Einzelzuverlässigkeit ergibt. Das ist auch der Grund, warum in der Automobilindustrie Zuverlässigkeitswerte von über 99,9 % gefordert sind. Wenn ich die Frage stelle, was das bei einer Zugreise im Fernverkehr der Deutschen Bahn mit zweimaligem Umsteigen bedeutet, schätzen selbst Experten*innen das oft falsch ein. Die richtige Antwort im März 2023 war: 68,4 % x 68,4 % x 68,4 % = 32 %. Mit anderen Worten: Von drei Fernfahrten kommt nur eine einzige pünktlich an.
In Österreich ist es zwar besser, aber der „Erfolg“ des Klimatickets führt dazu, dass sich Eltern bei mir beklagen, weil ihre Kinder einfach nur zum Spaß – und weil die Grenzkosten Null sind – von Wien nach Innsbruck und zurück fahren, während die ÖBB mithilfe der Polizei Menschen mit gültigen Fahrscheinen aus überfüllten Zügen schmeißen.
Es gibt also viel zu tun, und wir hoffen, dass auch die vorliegende Ausgabe von Internationales Verkehrswesen hierzu einige Anregungen gibt. Einige Beiträge beschäftigen sich mit den mannigfaltigen Aspekten der oben angesprochenen Preis- und Tarifpolitik, die von Gerechtigkeitsfragen über Vereinfachung der Tarifstrukturen bis hin zur Medienberichterstattung reichen. Für die Erreichung eines akzeptablen Leistungsniveaus spielt die Verbesserung der Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Deswegen hat sie auch in diesem Heft wieder einen großen Stellenwert. Wobei auch hier nicht nur auf die Herausforderung eingegangen wird, sondern auch die Zukunft der Schieneninfrastruktur in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht analysiert und diskutiert wird. Beiträge über Digitalisierung, Schifffahrt und die Sicherheit an Flughäfen runden eine inhaltsreiche Ausgabe ab.
Ich hoffe, die Lektüre bringt Ihnen viele neue Erkenntnisse, und wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.
Erschienen in Internationales Verkehrswesen (75), Heft 2 | 2023