Ein Statement von Prof. Dr. Barbara Lenz, ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin, und Mitglied im Herausgebergremium von Internationales Verkehrswesen.
Seit mehr als zwei Jahren sieht sich der öffentliche Verkehr Einflüssen ausgesetzt, die man als „Groß-Experiment“ bezeichnen könnte: Zunächst hatte Corona für einen massiven Rückgang der Nutzungszahlen gesorgt, teils wegen der spezifischen als Vorsorgemaßnahme eingeführten Auflagen, noch mehr aber wegen der subjektiv gefühlten Gesundheitsgefährdung, die Mobilität auf vergleichsweise engem Raum bedeuten könnte.
Und nun die Kehrtwende mit dem 9-Euro-Ticket? Die Einschätzungen dazu sind kontrovers. Der Begeisterung auf der einen Seite angesichts von fast 40 Millionen verkauften Tickets schlägt auf der anderen Seite viel Skepsis entgegen, vor allem weil abzuwarten bleibt, welche Wirkungen die 2,5 Milliarden-Maßnahme tatsächlich generiert. Festzustehen scheint jetzt schon, dass sie vor allem zusätzliche Verkehre erzeugt hat – und dabei insbesondere Freizeitverkehre. Dies aber als Negativ-Effekt zu verbuchen, wäre unangemessen. Vielmehr zeigt sich, dass Menschen gerne unterwegs sind, und dank 9-Euro-Ticket tun sie das mit einem umweltfreundlichen Verkehrsmittel. Dessen ungeachtet haben die Kritiker wohl Recht mit ihren Erwartungen, dass die Auswirkungen, die einen Beitrag zur Mobilitätswende darstellen, nur schwach bleiben und die erhoffte Verlagerung vom Auto zum öffentlichen Verkehr nur marginal zustande kommen wird.
Dennoch wird um eine Fortsetzung eines einfacheren und günstigeren Zugangs zum öffentlichen Verkehr gerungen, und das 9-Euro-Ticket könnte sich so immerhin vom Groß-Experiment zur Initialzündung einer Entwicklung wandeln, die weiterhin aufmerksam und sorgfältig begleitet werden muss. Vor allem darf der mediale Hype um das 9-Euro-Ticket nicht vergessen machen, dass die Herausforderungen an einen nachhaltigen Verkehr der Zukunft nichts an Komplexität verloren haben und mit einer spektakulären Tarifmaßnahme nicht einfach „erschlagen“ werden können.
Einfache Lösungen gibt es nicht – zumindest dann nicht, wenn ein systemischer Maßstab angelegt wird. Dies betrifft in besonderer Weise auch die Interaktion von Verkehrsmitteln und Infrastrukturen. Von einem Gelingen dieser Interaktion hängt die Möglichkeit zur Integration unterschiedlicher Modi ebenso ab wie der Zugang zu Mobilitätsoptionen. Dabei sollte nicht nur die Alltagsmobilität in den Blick genommen werden, sondern auch derjenige Teil unserer Mobilitätswünsche und -bedürfnisse, der in Form von Reisen über größere Entfernungen, sei es aus privaten oder beruflichen Gründen, stattfindet. Kommt auch hier „Mobilität für alle“ wirklich voran? Wie funktioniert gesellschaftliche Teilhabe für diejenigen, für die die Mitnahme eines Handgepäckstücks bereits eine erste Hürde auf dem Weg in den Urlaub darstellt? Welche Barrieren müssen abgebaut werden, damit Mobilitätsoptionen tatsächlich für alle offen stehen?
Liebe Leserinnen und Leser, die September-Ausgabe unseres Journals stellt sich einmal mehr technologie- und branchenoffen wichtigen Themen des Verkehrs und bringt neue Erkenntnisse und interessante Aspekte in die Diskussion ein. Unsere Autorinnen und Autoren blicken aus unterschiedlicher Perspektive auf das 9-Euro-Ticket und auf den weiteren Kontext des öffentlichen Verkehrs. Sie berichten über Barrierefreiheit und Intermodalität bei Flugreisen, und sie beleuchten aktuelle Entwicklungen im Güterverkehr – sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene.
Dazu wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre.
Erschienen in Internationales Verkehrswesen (74), Heft 3/2022