Mobilität

Kiezblocks – Umwelt- und Bürger-gerechte Verkehrsplanung

Kiezblocks gegen Blech und Lärm
© 499585 | pixabay

[TU Berlin] – Wie das Komponistenviertel in Berlin-Weißensee mit sogenannten Kiezblocks, strategisch eingerichteten Fahrrad­straßen oder Einbahn­straßen, vom Durch­gangs­verkehr befreit werden soll.

Über 6.000 Kraftfahrzeuge nur an einem Tag auf einer Nebenstraße, sich blockierende Autos, weil die Straßen zu eng sind, bis zu 50 Prozent Autoverkehr durch Menschen, die gar nicht im Komponistenviertel wohnen, in zwei Jahren mehr als 1.000 Verkehrsunfälle mit Sachschäden und Verletzen, davon 14 schwer, und besonders für Kinder schlechte Sichtverhältnisse beim Überqueren der Straßen wegen zugeparkter Straßen. Kurz: Blech, Lärm, Stress. Und das alles, weil Autofahrerinnen und Autofahrer keine Lust haben auf den Haupt­verkehrs­straßen wie der Berliner Allee und der Indira-Gandhi-Straße im Stau zu stehen und deshalb die Straßen im Komponisten­viertel als Schleichwege benutzen.

2020 war die Situation für die Anwohner*innen im Viertel in Weißensee wegen des Durchgangs­verkehrs untragbar geworden. Eine Lösung musste her. Die fand sich im Mobilitäts­bericht und hieß Kiezblock. „Kiezblocks sind städtische Wohnquartiere ohne Durchgangs­verkehr, mit Tempolimit, Fahrrad- und Spielstraßen sowie einladend gestalteten Straßenräumen mit viel Grün“, sagt die Professorin für Integrierte Verkehrs­planung Dr.-Ing. Christine Ahrend. An deren Fachgebiet wurde der Mobilitätsbericht unter Leitung von Dr. Oliver Schwedes zusammen mit der TU Dresden und dem Bezirksamt Pankow erarbeitet.

Acht neue Einbahnstraßen
Im Sommer dieses Jahres nun wurden die ersten Maßnahmen, die den Durch­gangs­verkehr aus dem Komponisten­viertel verbannen sollen, umgesetzt: Die am meisten als Schleichweg benutzte Bizetstraße wurde als Fahrradstraße ausgewiesen und acht zusätz­liche Einbahnstraßen angelegt. All das geschah nicht über die Köpfe der Anwohner*innen hinweg, sondern wurde in einem intensiven Diskussionsprozess mit ihnen ausgehandelt. Die Einbindung der Bevölkerung von Beginn an ist auf die wissenschaftliche Begleitung durch die TU Berlin und die TU Dresden, aus dem Komponistenviertel einen Kiezblock zu machen, zurückzuführen. „Um nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbeizuplanen und höchstmögliche Akzeptanz zu schaffen und die Betonung liegt auf höchstmöglich, denn eine hundertprozentige Zustimmung zu erhalten ist Illusion und führt letztendlich zum Nichtstun, wurde auf unseren Vorschlag hin ein Projektbeirat aus 14 Leuten eingerichtet. Diese repräsentieren die extrem unterschiedlichen Ansprüche an Mobilität im Viertel – die von Handwerkern, Gewerbetreibenden, Jugendlichen, Seniorinnen, Menschen mit Migrationsbiografie und Behinderungen, von enthusiastischen Radfahrern genauso wie von bekennenden Autofahrerinnen“, erläutert Christine Ahrend.

Ganzheitlicher Ansatz: Verkehrsplanung tangiert Stadt-, Umwelt-, Gesundheits- und Sozialplanung
Neben Kiezblocks finden sich im Mobilitätsbericht viele weitere praktische Handlungs­vorschläge, um Verkehr umwelt- und ressourcenschonend, gesund und sicher, vielseitig und sozial gerecht zu gestalten. Die Vorschläge reichen von der Einführung eines betrieblichen Mobili­täts­managements, der Priorisierung von Rad- und Fußverkehr in Um- und Neubaugebieten sowie deren gute Erschließung durch den ÖPNV von Beginn der Planung an, über geschützte Radwege auf allen Hauptstraßen bis hin zur unpopulären, aber notwendigen Umwidmung von Parkplätzen.

„In unserem datenbasierten Mobilitätsbericht werden nicht mehr nur die fünf unter­schied­lichen Verkehrsträger PKW, Bahn, Bus, Rad und Fußgängerinnen integrierend betrachtet, sondern Verkehrsplanung wird als ein Querschnittsthema verstanden, das die Stadt- und Umweltplanung genauso tangiert wie die Gesundheits- und Sozialplanung. Wissenschaftlich fundiert geht er somit über herkömmliches integrierendes verkehrs­plane­risches Denken hinaus, weil er die Auswirkungen von Verkehr auf Klima, Natur, Gesundheit und soziale Teilhabe mitdenkt. Und ambitioniert anwendungsorientiert gibt er den betreffenden Akteuren in der Verwaltung Instrumente wie die Idee der Kiezblocks an die Hand“, sagt die Verkehrswissenschaftlerin und ergänzt: „Dass das Bezirksamt Pankow sich auf diesen ganzheitlichen Ansatz eingelassen hat und daran arbeitet, ihn umzusetzen, ist weitsichtig und mutig und für unsere wissenschaftliche Arbeit wichtig. Wir benötigen die Erfahrungen aus der Praxis.“

„Stopp aus fachlicher verkehrswissenschaftlicher Perspektive nicht begründbar“
Anderenorts auf politischer Ebene in Berlin vermisst Prof. Dr.-Ing. Christine Ahrend diesen Mut. „Der Stopp von fünf geplanten und angeordneten Radwegen durch die Senats­verwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt ist aus fachlicher verkehrs­wissen­schaftlicher Perspektive nicht begründbar“, sagt die Verkehrs­expertin. Diese Entscheidung knapp nach Amtsantritt der neuen Berliner Regierung sei eine Gering­schätzung all des Fachwissens und Engagements von Bürgern, die an diesen Plänen Jahre mitgearbeitet haben, und beschädige partizipative Verfahren. Man könne den Eindruck bekommen, dass dem neuen Berliner Senat partizipative Verfahren egal seien. Auch werde die Berliner Politik nicht umhinkommen, den Autofahrern zu sagen: „Die Zeiten, dass der städtische Raum vorrangig von Autos okkupiert wird, sind vorbei. Ihr müsst teilen.“


Der Mobilitätsbericht: https://mobilbericht.mobilitaet.tu-berlin.de/