Am Freitag, 28.04.2023, verstarb in Wuppertal Prof. em. Dr.-Ing. Joachim Fiedler im Alter von 93 Jahren. Ein Nachruf von Prof. Dr.-Ing. Peter Hoffmann
Am 25.07.1929 in Leipzig geboren und aufgewachsen, verließ Joachim Fiedler 1950 seine Heimatstadt und studierte an der RWTH Aachen Bauingenieurwesen. 1957 ging er an die TH Hannover als Assistent zu Prof. Schlums und promovierte dort. Es folgte 1961 der Einstieg in den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bei der Hamburger Hochbahn AG (HHA) als Leiter der Entwicklungsabteilung. Anschließend übernahm er die Leitung der U-Bahn. In diese Zeit fielen u.a. der Wegfall der Zugangskontrollen an den U-Bahn-Stationen sowie Überlegungen zum optimalen Kontrollgrad im ÖPNV.
Bereits 1965 ging er als Dozent für Bahnwesen und öffentliche Verkehrssysteme zur Staatlichen Ingenieurschule für das Bauwesen (SIS) in Wuppertal. Von der TH Karlsruhe erhielt er 1966 einen Lehrauftrag für ÖPNV und wurde 1974 zum Honorarprofessor ernannt.
1973 lehnte er einen Ruf an die ETH Zürich ab und baute stattdessen als Universitätsprofessor das Lehr- und Forschungsgebiet „Öffentliche Verkehrs- und Transportsysteme (ÖVTS)“ an der neugegründeten Gesamthochschule Wuppertal – heute Bergische Universität – auf. Schwerpunkte in der Lehre waren Grundlagen der Verkehrsplanung, Eisenbahnbau und -betrieb, Bahnhofsanlagen, Fahrdynamik und Öffentlicher Personennahverkehr.
Joachim Fiedler war Praktiker und Pragmatiker. Immer auf der Suche nach Lösungen „zum Nutzen der Fahrgäste“ – so Fiedler 1977 – ging es in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit um die individuellen Mobilitätsbedürfnisse und ihre Abbildung in öffentlichen Verkehrssystemen.
Gerade Räume und Zeiten schwacher Verkehrsnachfrage – sowohl in der Stadt als auch auf dem Land – treffen Menschen ohne PKW-Verfügbarkeit schwer, u.U. mit der Folge sozialer Isolation. Anlass genug für Joachim Fiedler, mit der Entwicklung von Sammeltaxen (in verschiedenen Ausprägungen), organisierten Mitnahmeverkehren, Diskobussen usw. den ÖPNV um zielgruppen- und funktionsspezifische Angebote zu erweitern.
Die konsequente Fortführung dieser Ideen in Verbindung mit konventionellen Linienverkehren mündete in das Konzept der „Differenzierten Bedienung“, einer umfassenden Strategie für ÖPNV-Angebote rund um die Uhr, bis vor die Haustür und unter weitestgehender Berücksichtigung individueller Mobilitätsbedürfnisse.
Solch ein Ansatz bedarf einer umfassenden Beratung über die Vielfalt des Angebots. Erkannte Defizite schon im konventionellen Linienverkehr („Bringschuld der Unternehmen“) führten zunächst zur Entwicklung des „Haltestellenbezogenen Informationssystems (HIS)“ in den 1980er Jahren und – weitergehend – zur Verkehrsmittel- und Verkehrsträgerübergreifenden Mobilitätsberatung mit Mobilitätsberatenden und Mobilitätszentralen. Mobilitätsmanagement und Mobilitätsdienstleistungen waren dann nur konsequente Weiterentwicklungen der „Wuppertaler Schule“ in den 1990er Jahren.
In zahlreichen Seminaren, u.a. der Technischen Akademie Wuppertal (TAW), der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), und in Kooperation mit verschiedenen Verkehrsunternehmen suchte und fand er den Kontakt zur Praxis. Neben der Weitergabe des Hochschulwissens waren diese Begegnungen auch für ihn „Lernort Praxis“. Die damit verbundenen Fachgespräche sowie persönliche Erfahrungen (z.B. Diskounfälle Jugendlicher im ländlichen Raum, Theaterbesuche von Senioren) mündeten in forschungsrelevante Fragestellungen und daraus resultierende Angebotskonzepte. Sie waren wesentliche Grundlage seines Schaffens.
In der FGSV gründete und leitete er viele Jahre den Arbeitsausschuss Öffentlicher Verkehr mit verschiedenen Arbeitskreisen. Zahlreiche Veröffentlichungen der FGSV und in Fachzeitschriften belegen seine Aktivitäten und seinen Tatendrang. Sein Buch „Bahntechnik – Planung, Bau und Betrieb von Eisenbahnen, S-, U-, Stadt- und Straßenbahnen“ wurde in sechs Auflagen ein Klassiker für Personen in der Praxis und Studierende.
Seine zutiefst dem Menschen zugewandten Aktivitäten wurden nicht immer von allen so verstanden bzw. honoriert. „Arbeitsplatzvernichtung“ und „Abbau des konventionellen Linienverkehrs im ÖPNV“ – u.a. mit solchen Anfeindungen mussten sich Fiedler und seine Mitstreitenden in den 1980er Jahren auseinandersetzen.
Formalitäten (Forschungsanträge und Berichtswesen) waren ihm Zeitverschwendung. Lieber suchte er unkonventionelle Wege und Verbündete für seine Pilotprojekte – und fand sie.
Dabei verlangte Fiedler viel von sich, seiner Familie und seinen Mitarbeitenden. Gleichzeitig waren ihm die Menschen in seiner Umgebung – seine „Schülerinnen und Schüler“ – stets wichtig. Der Austausch mit ihnen – auch über die Hochschulzeit hinaus – und das Wissen über ihren weiteren Lebensweg waren ein Markenzeichen von ihm. Für „seine Schülerinnen und Schüler“ war er immer im Einsatz, besorgte Praktikumsplätze, nahm sie mit in Gremiensitzungen, auf Seminare, zu Forschungsprojekten vor Ort. Dabei hatte er die außerordentliche Fähigkeit, Studierende hinter sich zu scharen und sie leidenschaftlich für die Aufgabe ÖPNV zu begeistern. So sitzen heute Wuppertaler Fiedler-Absolventinnen und -Absolventen in vielen Ministerien, Verkehrsverbünden und ÖV-Unternehmen in hochrangigen Führungspositionen.
Auch nach seiner Emeritierung 1993 war er weiter aktiv und nahm bis ins hohe Alter regen Anteil an der Entwicklung von Mobilitätsangeboten und an der Verkehrsentwicklung von Wuppertal. Dabei war seine immer konstruktive Kritik sehr geschätzt.
Anruf-Sammeltaxen, organisierte Mitnahmeverkehre, differenzierte Bedienung, Mobilitätsberatung, Mobilitätszentrale, Mobilitätsdienstleistung, Mobilitätsmanagement – jetzt gerne mit Anglizismen versehen, globalisiert und auch von der Automobilindustrie freundschaftlich „gekapert“ – sind heute selbstverständlicher Bestandteil unserer Alltagsmobilität – „Made in Wuppertal“ am Lehrstuhl ÖVTS von Joachim Fiedler, bereits in den 1980er/1990er Jahren beschrieben und erprobt. Er war seiner Zeit in manchem voraus!